Geisterfahrer in der Einbahnstrasse

Am Tag, als die Berliner Mauer faellt, bin ich noch nicht einmal zwei Jahre alt. In einem Dorf in Mecklenburg nuckele ich an meinem Daumen und spiele mit meinen neuen Schuhen, waehrend etwa 100 Kilometer entfernt Geschichte geschrieben wird. Wovon ich damals keine Ahnung habe: Berlin ist an diesem Tag zur Einbahnstrasse geworden. Es gibt nur noch eine Richtung. Der Weg fuehrt in den Westen. Was in diesem Moment nicht mehr aufzuhalten ist, hat sich in den Wochen und Monaten zuvor bereits abgezeichnet. Tausende Buerger der DDR kehren ihrer Heimat den Ruecken.

Nur einer laeuft in die andere Richtung. Er ist schoen, >als haette ihn sich Thomas Mann in einer schwachen Stunde ausgedacht<, so ein Freund ueber ihn. Und er ist ein talentiert. Sein Erstling Kleinstadtnovelle ist ein viel beachteter Erfolg. Im September 1989 wird der Westdeutsche Ronald M. Schernikau Buerger der Deutsche Demokratischen Republik. Freiwillig und aus Ueberzeugung. Denn Ronald ist Kommunist. Er glaubt an den Sozialismus. Doch die Genossen sind misstrauisch, und es dauert lange, bis der junge Dichter endlich seine Wohnung in Hellersdorf beziehen kann. Er ist ihnen zu kritisch. Wie so oft verstehen sie nicht, dass die Kritik konstruktiv gemeint ist. Sie merken nicht, wie sehr Ronald dieses Land liebt.

Ronald, der letzte offiziell eingebuergerte Ostdeutsche, ist in der DDR geboren. Seine Mutter Ellen flieht 1966 mit ihrem Sohn im Kofferraum eines Diplomatenwagens nach Westdeutschland. Aus Liebe, nicht aus Ueberzeugung. In der neuen Heimat fuehlt sich die junge Krankenschwester nie richtig wohl. Zuhause schauen Ronald und sie DDR-Fernsehen. Oft sprechen sie ueber ihr Leben in Magdeburg. Wahrscheinlich stammt daher Ronalds Sehnsucht nach dem Osten. Als er endlich ankommt, am anderen Ende der Einbahnstrasse, gibt es die DDR nicht mehr. Wenig spaeter stirbt Ronald M. Schernikau, wie so viele andere in dieser Zeit, an dem toedlichen HIV-Virus.

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