Lackmustest für Subjektreserven

Die Zeit der wirklichen Beschleunigungsdramen ist, glaube ich, vorbei. Das war die Sache des 20. Jahrhunderts. Es mag zwar sein, dass heute Monate wie frueher Tage vergehen, das alles aber hat nicht nur mit erhoehten Geschwindigkeiten und deren Infrastrukturen, mit dem Schwinden zeitlicher Ressourcen und gesteigerten Ungeduldsqualen zu tun. Viel eher scheinen mir Zeitverlaeufe selbst ihre ordnende, strukturierende und somit zwingende Funktion verloren zu haben. Wenn Fristen, Zeitdruck und eine fliehende Zeit einmal das Mass fuer biographische Umstaendlichkeiten, fuer Hast und Ueberstuerzug, fuer Verfehlungsaengste und atemlose Glueckfaelle, also fuer intensive Zeiterfahrungen gewesen sein moegen, so folgt die Zeit heute eher einer Logik der Zerstreuung. Damit sind zwei Dinge gemeint.

Einerseits haben sich Zeit-Oekonomien vervielfaeltigt und voneinander entkoppelt, private und oeffentliche Zeit, Arbeits- und Mussezeiten, intime Zeitinseln und Weltzeiten koennen lose verbunden nebeneinander bestehen und muessen nicht unbedingt mehr in einem uebergreifenden Zeithorizont koordiniert werden. Andererseits hat die Zeit die Faehigkeit zur symbolischen Distinktion eingebuesst. Das betrifft die Unterscheidung von Lebensaltern ebenso wie die Erfahrung biographischer Dynamiken – altersloses Altern und juvenile Dauerkrisen sind wohl die Symptome der Sarkozy-Generation. Es ist also weniger der Druck der – natuerlich immer noch draengenden, stets knappen – Zeit, der einen auf empfindliche Weise irritiert, sondern die vage Ahnung, dass die Zeit zu einer desolidarisierenden Groesse geworden ist.

Haben lange Zeit unsere Gesellschaften – so oder so – funktioniert, sofern sie den individuellen wie kollektiven Lebensprozessen einen verbindlichen Rhythmus, einen vorhersehbaren Takt verpassten, so ist diese soziale Zeitressource nun geschwaecht und unwirksam. Diese Zeit hat labyrinthischen Charakter und bringt neue Zumutungen mit sich: Es gibt keinen verlaesslichen sozialen, natuerlichen, biographischen Zyklus, der das individuelle Zeitmanagement systematisch entlasten wuerde. Wie Mikro-Unternehmen muss man seinen Takt, seinen kleinen temporalen Haushalt taeglich neu erfinden – eben darum kann man kaum guten Gewissens behaupten, jemals mit einer Sache wirklich fertig zu werden. Dauerndes Anfangen und eine stets neu improvisierte Taktung – dafuer wird es eine Regel und eine Antwort vielleicht erst in einer naechsten und juengeren Generation geben.

Sofern Geschichte und Historiograhie eine theoretische Herausforderung darstellen, geht es dabei um die Sichtung und Unterscheidung von Zeitformen, die sich als Milieu von unterschiedlichen Ereignissen und Ereignisgestalten ausmachen lassen. Welche innere Dauer haben Ereignisse? Wie verknoten sich in ihnen momenthafte und anhaltende Prozesse, drastische und unmerkliche, lange wirksame und ephemere Veraenderungen? Wie kann man Epochen und Epochenschwellen nicht nur in der Zeit, sondern durch unterschiedliche Zeitgestalten charakterisieren? Laesst sich eine Typologie von historischen Zeiterfahrungen erstellen? Inwiefern laesst sich von Politiken der Zeit und ihrer Interventionkraft sprechen?

Welche Aktivitaetspotentiale werden durch Zeitoekonomien organisiert? Was bedeuten Zeiten des Zorns oder der Angst, der Hoffnung oder Resignation, der Langeweile oder der heillosen Verspaetung? Welche gluecklichen oder schrecklichen Erfahrungen werden mit Wiederholungen und Unwiederholbarkeiten gemacht? Die Zeit ist also kein einheitlicher, chronologisch abzaehlbarer Stoff, sondern eine Mannigfaltigkeit und bestimmt so den Verlauf der Geschichte wie deren Wahrnehmung, sie bestimmt die innere Konsistenz von – sozialen, physikalischen, lebenden – Systemen in unterschiedlichen, kurzen und langen, reversiblen und irreversiblen Verlaufsformen; man steckt stets in verschiedenen Zeitschichten. Ihre Lagerung, ihre Begrenzung und ihre Verwerfungen fordern die Entwicklung eines historischen Zeit-Sinns heraus.

Das Zaudern verstehe ich weniger als persoenliche und psychologische Angelegenheit denn als eine systematische Reflexionsgroesse. Sein Ort ist – wie unterschiedlich die Szenarien sein moegen – eine Zwischenzeit: eine Unterbrechung, ein Riss, eine Art Anschlussfehler, der die Frage nach der Fortsetzbarkeit von Handlungsketten und Geschehensprozessen stellt. Im Zaudern mag durchaus Entscheidungsdruck mit Entscheidungsnot kombiniert und somit eine Selbstueberfoderung des Erlebens gegeben sein; genauer noch aber artikuliert sich in ihm ein Moeglichkeitssinn, der im Spiel von Alternativen und Optionen auch die Konsistenz von Weltlagen erprobt. Gibt es eine Bruecke zwischen individueller Erfahrung und allgemeiner Reflexionskraft im Zaudern, so besteht sie im Moment eines entzogenen oder fehlenden Grunds: eine gestundete Zeit, in der sich eine noch unbegruendete Zukunft artikuliert.

Es geht weniger um Beschleunigungszwaenge und deren Handhabung, sondern um die Frage danach, wieviel Ich-Anteile ueberhaupt an Handlungsweisen und Aktionen beteiligt sind. Nicht Ich, sondern man handelt, man agiert und reagiert, folgt mehr oder weniger wahrscheinlichen, mehr oder weniger programmierten Handlungsmustern. In dieser Hinsicht ist das Zaudern immer wieder als Lackmustest fuer Willensprobleme und Subjektreserven erschienen. Eine Probe auf die Art und Weise, wie Handlungen zugeschrieben und verantwortet werden: das Zaudern ist die andere Seite der Dezision.

Koennte man von einer gegenwaertigen Kultur der Schlag-Fertigkeit sprechen, die von der Entfesselung von Aktionsautomatismen – Schlag auf Schlag – bei verminderter Verantwortlichkeit charakterisiert ist, so reserviert sich das Zaudern eine gegenstrebige Aktivitaet. Ich meine damit eine idiosynkratische Genauigkeit, die von festen Urteilssystemen, scheinbaren Notwendigkeiten, von der Endgueltigkeit von Loesungen und Konsequenzsucht irritiert wird. Das Zaudern dringt auf Revision. Und es unterstellt, dass in gegebenen Loesungen ungeloeste Fragen und Probleme insistieren. Im Zaudern macht sich also eine Art komplizierender Sinn bemerkbar.

In der historischen Perspektive erschien mir das Zaudern – von antiken Helden bis zu modernen Figuren der Unschluessigkeit – der Schatten einer abendlaendischen Kultur der Tat und der Bewerkstelligung zu sein. Im Zaudern verdichteten sich sozusagen die ungeborenen Moeglichkeiten der Geschichte. Und so zeichnet das Zaudern vielleicht auch heute eine begruendete Aktionsallergie aus: eine Art Schwellenkunde, die sich um die Nutzung von Einspruchsfristen kuemmert. Zu bestehenden Zwangslagen entdeckt das Zaudern die entsprechenden Probleme und Fragen, und es folgt einer intellektuellen Verfahrensweise, die das Weitermachen versuchsweise bestreikt. Foucault hat einmal von einer >kritischen Ontologie unserer selbst< gesprochen – das Zaudern haette einen Anteil an dieser Methode: Die Gegenwart wird ausgedehnt und angehalten und nimmt eine Gestalt an, die dann keineswegs unvermeidlich und seit langem programmiert erscheint. [Anm.d.Red.: Der Diaphanes Verlag hat soeben Joseph Vogls Buch >Ueber das Zaudern< veroeffentlicht.]

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