Kurven lesen

Eigentlich haben mich Boersenkurse nie interessiert. Dieses komische, undurchdringliche Zahlenspiel, bei dem man innerhalb von Minuten unglaublich reich oder unglaublich arm werden konnte, war fuer mich eher was fuer seitengescheitelte BWLer und bebrillte >Finanzmathematiker<. Allenthalben habe ich mich gefreut, wenn es einen kleinen Crash gab, aus so einem komischen - zugegebenermassen unreflektierten - studentischen Antikapitalismus heraus, gepaart mit einem leicht voyeuristischen Spass a la >Endlich passiert mal was<. Jetzt ist das anders.

Ploetzlich versuche ich, das Spiel aus Angebot und Nachfrage, das fiebrige Ankaufen und Abstossen, das Zittern von Kurven zu interpretieren und einen Sinn zu finden hinter der >Spekulation<. Warum? Ich schreibe inzwischen fuer ein Kunstmarkt-Magazin und spaetestens seit diesen Sommer der amerikanische Immobilienmarkt einbrach, geht wieder das grosse Raunen durch die Riege all jener, die irgendwie mit Kunst ihr Geld verdienen: Das sei das erste Zeichen gewesen und >jetzt platzt die Blase aber bald!< Kein Wunder, bedenkt man, dass ein nicht unwesentlicher Teil des Geldes im Kunstmarkt aus den Spekulationsueberschuessen des amerikanischen Immobilienmarktes stammt. Was neben der oekonomischen Basis aber noch auf dem Spiel steht, ist die grassierende Sitte, den Wert von Kunst nach ihrem Geldwert aufzuschluesseln. Kunst wird nicht nur gehan- delt mit Geld aus dem Immobilienmarkt, sondern auch wie Immobilien selbst: Gute Kunst ist – natuerlich etwas verkuerzt gesagt – die, die teuer ist, die auf dem Markt Erfolg hat. Bei einem Crash der oekonomischen Basis ginge auf einem symbo- lischen Niveau der Codierung die momentane Lesbarkeit von Kunst in Zeiten des allbestimmenden globalen Marktes selbst verloren. Bis es soweit ist, versuche ich weiter, Boersenkurse zu entschluesseln. Glueck dabei hatte ich aber noch nicht.

2 Kommentare zu “Kurven lesen

  1. toll, weil:

    1. “Allenthalben” wird zu wenig benutzt
    2. kunst scheint es seinen beobachtern irgendwie schwer zu machen, zwischen positiv und negativ zu unterscheiden, sonst müsste man sich nicht so auf die wirtschaft beziehen, um gute kunst von schlechter zu unterscheiden…

    ich hab hier kürzlich was dazu geschrieben: http://www.berlinergazette.de/?p=515

  2. Richard Prince wäre in diesem Zusammenhang wohl ein interessantes Fall-Beispiel. Zeigt sich an seiner Kunst, dass allein Marktwert über Qualität entscheidet? Siehe seine aktuelle Museumsausstellung in NYC. Oder zeigt sich daran, dass Kunst die Marktdiktatur im Stande ist zu reflektieren, in dem sie mit den Mechanismen des Marktes spielt?

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.