Die Kraft der Irritation

Wenn ich lernen könnte, was ich wollte, ganz ohne ökonmischen Druck, dann wäre das Chinesisch. Eine Sprache = eine Welt. Ein echtes Lebenszeitprojekt. Vor allem die Schriftzeichen. Was ich ebenfalls gern lernen möchte: Zeichnen. Dinge festhalten auf dem Papier. Farben finden, die wiedergeben, wie ich die Dinge wahrnehme – was sich leichter anhört, als es ist.

Doch handelt es sich dabei eigentlich um “lernen” oder “sich bilden”? Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen?

Das ist wohl mehr als eine terminologische Differenz: Beide Verben umschreiben den Erwerb von Wissen beziehungsweise von Kenntnisbeständen und den Umgang mit diesen. Schwierig wird es, wenn man nun versucht, die jeweiligen Qualitäten des Wissenserwerbs zu bestimmen.

Lernprozesse vs. Bildungsprozesse

Vielleicht so: Bei und in Lernprozessen eignen wir uns bestimmte kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten bereichsbezogen an. Wir lernen etwa Sprachen, Rechenregeln, historische Daten. Vor allem aber lernen wir Regeln und noch wichtiger Regeln der Regelanwendung.

Bildungsprozesse sind hingegen eher bereichsübergreifend. Sie setzen bestimmte Lernprozesse voraus und integrieren die so erworbenen Kenntnisse und Verfahrensweisen in größere Zusammenhänge.

Hierbei bedarf es einer Ressource, deren Bedeutung nicht hoch genug geschätzt werden kann: Zeit. Denn nur durch Zeit werden wiederholte Beobachtungen und Reflexionen möglich. Nur durch die Befreiung von Verpflichtungen zu Effizienz – sprich: durch frei verfügbare Zeit – werden Bildungsprozesse in Gang gesetzt.

Bildung braucht Zeit

Die Frage nach Weiter-Bildung und persönlichen Verfahren zur Weiter-Bildung ist dabei enorm wichtig. Sie impliziert ja zum einen, dass Bildungsprozesse ein gewisses Level erreichen (können), das zu erweitern, aufzustocken und zu verbessern ist. Und Weiter-Bildung erwartet, dass es bestimmte Maßnahmen, Schrittfolgen und Verfahren für diesen Vervollkommnungsprozess gibt.

Ich kann jetzt nicht näher erläutern, welche Konsequenzen diese Auffassung hat. Nur so viel: Mit jedem Buch, das ich lese, jedem Bild, das ich sehe, jedem Musikstück, das ich (konzentriert) höre, bilde ich mich weiter. Und zwar dann, wenn Reflexionen ausgelöst werden, die bereits vorhandene Wissensbestände und Erfahrungen re-aktivieren, neu und verändert hervorrufen. Wichtigste Ressource auch hierfür: Zeit.

Die Irritationsfähigkeit der Uni

Meine intensivste Lehr-Erfahrung an der Hochschule kann ich rasch formulieren: Die wirklich spannenden Probleme, gute Ideen und überzeugende Lösungsmöglichkeiten findet man bei der gemeinsamen Suche. Und das heißt im Austausch, im Gespräch, in direkter Kommunikation. Diese Kommunikationssituation kann auch in Texten hergestellt bzw. simuliert werden: doch da bleibt sie eine Inszenierung.

Die besondere Qualität der Lehre an einer Hochschule besteht in ihrer fortwährenden Irritationsfähigkeit: Antworten und Fragen, Einwände und Stellungnahmen der Studierenden sind nicht vorhersehbar. Sie bleiben immer ein Risiko – und das ist gut so.

Schwer zu sagen, ob die Studenten heute weniger ‘gebildet’ sind, weil sie die Lerninstitutionen in immer höherem Tempo und unter immer größerem Druck durchlaufen müssen. Ich weiss nur: Das Lamento von der vermeintlich weniger gebildeten, dümmeren, fauleren, schlechteren jüngeren Generation kennt jede Zeit. Ist wohl ein Derivat der Aussagen, dass “früher” alles besser gewesen sei.

Mitmachen statt jammern

Klar sind die Voraussetzungen von Bildungsprozessen heute andere. Und Zeit als zentrale Ressource ist knapp und wird durch BA-Studienpläne ziemlich limitiert. Andererseits gibt es Zugriffsmöglichkeiten auf Texte und andere Bildungsressourcen, die es in frühreren Zeiten nicht gegeben hat.

Wie schon gesagt: Die wichtigste Ressource für Bildung ist und bleibt Zeit. Daneben: Kommunikation. Bildungsstätten und insbesondere Hochschulen müssen für beides sorgen: Sie müssen Zeitfenster öffnen und Verständigung, Vernetzung und Austausch initiieren.

Konkret: Innovative Lehr- und Lernformen mit projektbezogenen Tätigkeiten, Diskussionen der studentischen Arbeiten (die nicht nur vom Seminarleiter gelesen werden sollten, sondern von allen interessierten Teilnehmern) und Beteiligung aller.

(Anm. d. Red.: Der Verfasser des Protokolls ist Literaturprofessor und lehrt an der Humboldt-Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm Literatur und Wissen.)

8 Kommentare zu “Die Kraft der Irritation

  1. Vielleicht sollte man sich an den Bildungseinrichtungen künftig mehr mit Zeit beschäftigen: im theoretischen wie im praktischen Sinne. Denn ich stimme ich Ihnen zu: Zeit ist ein wichtiger Faktor, eine wichtige Ressource. Nur: Wie kann ich mein Leben, meine Bildungsprozesse dahingehend optimieren?

  2. Ich finde das, was im letzten Absatz angesprochen wird, spannend. Dass die Studenten auch gegenseitig lesen, was sie geschrieben haben. Dann wird der vereinzelte Lernprozess plötzlich zu einem gemeinsamen Erlebnis. Denn ehrlich gesagt: In der Seminardiskussion gibt es doch immer wieder das Problem der Integration. Es gibt die Vielredner und die Stillen, die Profiler und die Schauspieler. Wäre doch ehrlicher, wenn man sich wirklich damit beschäftigen müsste, was die Kommilitonen so schreiben. Oder?

  3. @Magdalena: Fänd ich auch, aber bin ich zu pessimistisch, wenn ich glaube, dass das nicht funktionieren würde? Neid, Konkurrenzdenken, Ideendiebstahl, das ganze neoliberale Ding.

  4. Ich mag den Fokus auf Prozesse. Ich bin schon lange aus der Uni raus, aber finde es dennoch spannend darüber nachzudenken, wie man die Institution, die eine wichtige Phase in meinem Leben geprägt hat, verbessern könnte. Meine Frage daher ist: Was für “Fehler im System” behindern/verhindern die in diesem Beitrag beschriebenen Prozesse? und wie könnte man diese Fehler beheben?

  5. Kleiner Literaturhinweis:

    UNI BRENNT
    Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches
    Hg. von Stefan Heissenberger, Viola Mark, Susanne Schramm, Peter Sniesko, Rahel Sophia Süß

    Dieser Band, entstanden aus Initiative von protestierenden Studierenden der Universität Wien, vereint Beiträge von Lehrenden, Intellektuellen und Studierenden. Er versteht sich als Bestandsaufnahme und Reflexion der Proteste, wobei der Fokus auf deren Ausgangspunkt Wien liegt.

    Das Buch macht sich aber auch allgemeiner auf die Suche nach den Ursachen des Protests, stellt grundsätzliche Fragen zum Bildungsbegriff und zur Bildungspolitik, versammelt kritische Positionen und Forderungen und gibt rückblickend Stimmungsbilder aus den besetzten Hörsälen Ende 2009 wieder.

    Mehr zum Buch:
    http://www.turia.cc/unibrennt

  6. seid ihr unzufrieden mit dem Studium? Oder wisst ihr gar nicht mehr, wie studieren geht, weil ihr die letzten Monate nur noch Transparente gemalt und in Initiativgruppen diskutiert habt? Leidet ihr unter der Post-Streik-Depression und dem ernüchternden Gefühl
    “viel demonstriert – wenig erreicht?” Denkt ihr auch, nach den großen Aktionen im Bildungsstreik sollte jetzt endlich Tacheles geredet werden? Dann kommt zusammen – auf dem diesjährigen *taz-Labor Bildung am 24. April 2010!* Dort diskutieren wir die entscheidende Frage der Zukunft und der aktuellen Bildungsdebatte: *”Welche Universitäten wollen wir?”* http://www.tazlab.de

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