Klogekritzel und Fussballspiele

Schon lange, oder vielleicht sogar noch nie, hatte ein Live- Erlebnis und dessen Einmaligkeit eine so grosse Bedeutung wie jetzt, sagte Christoph Gurk in seiner Einfuehrung. Er war einer der drei Kuratoren der zweitaegigen Veranstaltungsreihe “Life is Live” im Berliner HAU. Den Boom auf Konzerte kann man in Berlin, der sich schnell und liberal entwickelnden Party-Hauptstadt, sehr gut beobachten. In der Aera der digitalisierten Kopien sind Konzerte das einzige Wahre, das einzige Echte, und die Moeglichkeit das symbolische “I was here” auf der Toilettenwand zu schreiben ist viel wertvoller als Besitz einer CD. Das fuehrt hingegen zu Massen von Easy-Jet-Touristen, die die Berliner Konzert-Szene in einen Elektro-Ballermann veraendern.

Der Raum im HAU 1 ist fast voll. Nach der Einfuehrung von Christoph Gurk spricht Simon Frith, Professor fuer Musikwissenschaft an der Universitaet Edinburgh. Sein Vortrag ist kompakt und sehr gut strukturiert. Die Gedanken und Ergebnisse diversen Forschungsanalysen werden leicht zugaenglich gemacht, es wirkt aber auf keinen Fall banal. Man hat Lust ein Buch von ihm zu lesen. In ca. 45 Minuten gibt er einen geschichtlich-soziologischen Ueberblick ueber die Musikindustrie. In den 1950ern gingen wir oft zu Konzerten, in den 1980ern und 1990ern war es uns wichtig eine Plattensammlung zu Hause zu haben. Seitdem es leicht ist Zugang zum schnellen Internet zu haben, also seit ca. 1996 ziehen wir vieles aus dem Netz; seit ca. 2000 ueberspielen wir Hunderte von mp3 Tracks mit einem Mausklick auf unseren mp3 Player und entwickeln dabei eine Sehnsucht nach einem Live-Erlebnis.

Konzerte, aber auch Festivals zaehlen dazu, sagt Frith. Er spricht von Glastonbury oder T in The Park als Phaenomene in der neuen Musikoekonomie: letztes Jahr waren die Karten fuer T in The Park ausverkauft, bevor das Programm veroeffentlicht wurde. Es geht also auch um das Kollektive. Eine Frau aus dem Publikum fragt, ob es aehnlich wie mit Fussball sei. Frith lacht und sagt, in gewisser Weise schon, andererseits kann man Fussball aber auch sehr gut zu Hause gucken, schliesslich ginge es um den Endergebnis des Spiels und nicht um die Wahrnehmungsperspektive. Fernsehuebertragungen von Festivals, sagt Frith, setzten kein Massenpublikum voraus und erwaehnt dabei den neuen Deal zwischen BBC und Glastonbury.

Dem Vortrag folgt ein Konzert von Hendrik Weber, alias Pantha du Prince – dem Prinzen der feiner minimalistischen Elektronik. Vor ihm spielt noch Panda Bear, also Noah Lennox, bekannt vom Animal Collective aus Baltimore. Das Konzert beginnt sehr spaet – wir koennen uns also erstmal in unser kollektives Live-Erlebnis ohne Musik vertiefen. Tolles Lichtspiel mit diversen Farben und Kunstnebel. Ich bin leicht hypnotisiert und leider zu dem Zeitpunkt schon extrem erkaeltet. Auf der Buehne Panda Bear. Mir wird schwindelig von der Bedeutung der Einmaligkeit, von der Lautstaerke und der Luft. Ich fahre nach Hause um der Ohnmacht zu entfliehen, bevor es zu Ende ist und mein kollektives Erlebnis, mein Gemeinsamkeitsgefuehl, endet an dem Abend einsam im Bett. Ich wuenschte mir, es gaebe eine Live-Uebertragung, wie beim Fussball.

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