Kein Mensch ist eine Insel

Meine ersten bewussten, intensiven Erfahrungen mit Wasser habe ich auf der Nordseeinsel Juist gemacht. Waehrend der 70er Jahre fuhr unsere Familie zweimal jaehrlich fuer laengere Zeit dorthin in den Urlaub. Grund war allerdings weniger das Meer an sich als Reiseziel, sondern vielmehr die besonders salzhaltige Luft der Nordsee. Die starke Asthma-Erkrankung eines Familienmitglieds hatte dazu gefuehrt, dass uns diese Urlaube vom Arzt als therapeutische Massnahme anempfohlen wurden.

Sofern ich das richtig erinnere, spielte dieser Umstand in unserer Wahrnehmung allerdings kaum eine Rolle, abgesehen davon, dass die Eltern uns bei jedem Wetter an den Strand mitnahmen. Waehrend der Kindheit wurde die Nordsee somit zum Synonym fuer Urlaub; zunaechst planschten wir bei Ebbe in den Prilen herum und bauten Sandburgen, um sie spaeter von der aufkommenden Flut wegspuelen zu lassen. Spaeter lernten wir, im Meer zu schwimmen. Unter dem Schutz der Eltern waren dies relativ glueckliche und angstfreie Erlebnisse.

Mit zunehmendem Alter, wachsender Selbststaendigkeit und Eigenverantwortung, verlor die See ihren abstrakten Charakter eines Urlaubs-Features und zeigte sich in den elterlichen Warnungen bald auch von ihrer bedrohlichen Seite – passte man nicht auf, konnte man hinausgetrieben werden, ertrinken oder schlicht mit Quallen und anderen unfreundlichen Tieren, Pflanzen oder Treibgut in Kontakt kommen. Auch das Schlechtwetter-outdoor-Programm war nicht unproblematisch; ohne Friesennerz und Gummistiefel waere es nicht auszuhalten gewesen. So lernte ich bald die Vorteile von wasserdichter Kleidung kennen: ein klarer Punktsieg der Technik ueber das Klima. Ungefaehr an diesem Punkt kristallisierte sich mein zukuenftiges Verhaeltnis zur >Natur< heraus: Eine glueckliche Koexistenz mit ihr empfinde ich dort, wo sie vom Menschen in ihre Schranken verwiesen werden kann. Das Wasser bezieht seinen Reiz somit nicht nur aus seiner Eigenschaft als Lebensgrundlage und Swimming Pool, sondern ebenso aus der Moeglichkeit, es mit Hilfe von Regenmantel und Luftmatratze auf Distanz zu halten. Insofern laesst sich einerseits sagen, dass wir uns mittels regendichter Kleidung von der Natur isolieren. Andererseits stellt uns erst die Technik Moeglichkeiten bereit, ueberhaupt mit der Natur leben zu koennen. Auch wenn wir die Natur nicht nicht begehren koennen, kann es kein ernstzunehmender Wunsch sein, in einer Art regressiver Bewegung wieder eins mit ihr werden zu wollen. Unsere Entwicklung hin zu biologisch-technischen Maschinen/Cyborgs ist einer evolutionaeren Vorwaertsbewegung geschuldet. Vergleichbares gilt meiner Ansicht nach fuer soziale Kontakte: zivilisatorische Uebereinkuenfte funktionieren hier vielleicht aehnlich wie wasserdichte Kleidung, indem sie uns Umgangsformen zur Hand geben, die es ermoeglichen, uns ueber ein instinkt- oder triebgesteuertes Miteinander zu erheben. Allerdings: Ebenso wenig, wie die >Natur< als Feind anzusehen waere, ist jeder technische oder gesellschaftliche Fortschritt im positiven Sinne progressiv. Aber zumindest werden dadurch Handlungsoptionen eroeffnet. In diesem Sinne wuerde ich mit dem >mittelmaessigen Mann Erich Honecker< [Helmut Schmidt] sagen: vorwaerts immer, rueckwaerts nimmer. Die Moeglichkeit, mich mittels wasserdichter Kleidung vor dem Regen zu schuetzen, wenn mir danach ist, halte ich dementsprechend fuer ebenso wertvoll wie die Uebereinkunft, nicht vor die Tuer meines Nachbarn zu pinkeln, weil ich gerade ein entsprechendes Beduerfnis verspuere. Das Bild vom Wasser als Prinzip des Sozialen symbolisiert vor allen Dingen so etwas wie die Sehnsucht nach Zugehoerigkeit zu einer Gemeinschaft und mitunter Geborgenheit, die sich vielleicht aus der einzig wahren kollektiven Erfahrung der Menschheit speist: der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung waehrend der neun Monate im Fruchtwasser; eine Zeit, in welcher der anfaengliche Zellklumpen zunaechst einmal die Form eines Wasserwesens annimmt und damit den Fischen, als fernen Vorfahren des Menschen, aehnlicher ist als der kommenden Lebensform auf dem Trockenen. Das Gefuehl von simultaner Freiheit und Geborgenheit, welches wir z.B. beim Baden [ob in der Wanne, im See oder im Meer] erleben koennen, mag dieser Zeitspanne geschuldet sein. Das ist aber wohl eher im Bereich der Spekulation angesiedelt. Eher wuerde ich davon ausgehen, dass sich die ca. 70 Prozent Wasser, aus denen der menschliche Koerper besteht, unter - sagen wir mal - ihresgleichen wohlfuehlen. Selbstverstaendlich ist das nicht weniger spekulativ. Aber vielleicht ein ganz interessanter Ansatz, um das Bild neu zu denken. Zwar hege ich starke Bedenken gegen die Darstellung komplexer Zusammenhaenge durch bildliche Metaphern [bei der Rezeption uebernimmt dann leicht das >Gefuehl< das Ruder], aber, na ja. Der groesstenteils aus Wasser bestehende Koerper im Wasser also. Was sich hier aufdraengt, ist ein Bild von Gleichheit. Eine Gleichheit, die von der vorherrschenden Deutung der Geschichte des 20. Jahrhunderts diskreditiert wurde; nicht zuletzt durch die Verankerung metaphorischer Texte im allgemeinen Sprachgebrauch und die damit einhergehende Tendenz, jene Texte auf diesem Weg zur >Wahrheit< werden zu lassen. Ich denke hier in erster Linie an die Bilder vom Wasser als Prinzip des Sozialen, die warnen vor dem >Untergehen in der Masse<, dem >Verschwinden des Eigenen<, dem >Kollektiv als konturlosem Konglomerat<, der >Aufloesung des Individuums< etc. Die Erfahrungen von Nationalsozialismus und Stalinismus haben eine Erklaerungsnotstand hervorgerufen, dem sich auf dieser Ebene recht bequem begegnen liess. Bis heute haelt sich die Tendenz, verschiedene Spielarten totalitaerer Gewalt ueber einen Kamm zu scheren. Die zynische Gleichsetzung der beiden grossen Totalitarismen durch die haeufig verwendete Bildsprache blendet politische Entscheidungsprozesse aus und nivelliert den unueberbrueckbaren Unterschied zwischen einer auf Vernichtung abzielenden voelkisch-nationalen Todespolitik und der Tragik eines nicht eingeloesten Emanzipationsversprechens. Die furchterregende Seite der Bildsprache von Wasser/Meer/Masse als Bedrohung lebt fort in politischen Slogans unserer Zeit wie >Freiheit statt Gleichheit<. Vielleicht ist das nichts als eine aengstliche, reflexartige Reaktion auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts einerseits, auf die im Postfordismus voranschreitende Verfluessigung sozialer Beziehungen andererseits. Da das Bild vom Meer immer auch schon ein Wegfallen/Zusammenbrechen [gesellschaftlicher] Fundamente impliziert, denken einige Leute wohl, die Welt mithilfe von Angstszenarien aus der Mottenkiste vor den Anforderungen einer neuen Zeit schuetzen zu muessen/koennen. Liest man das Meer/Wasser hingegen als ein positives Bild mit all seiner Potentialitaet eines neuen sozialen Projekts, als den offenen Raum der [menschlichen] Existenz, zu dem sich jedes Subjekt in Beziehung setzen muss und der jedem Subjekt innewohnt, so scheint darin die Moeglichkeit einer universalen Ethik auf. Hier kommt das Bild vom Wasser als Prinzip des Lebens ins Spiel, welches eben keine metaphorische Weichzeichnerei ist, sondern zunaechst einmal klarstellt: Die Koerper aller Menschen bestehen groesstenteils aus Wasser, und die Koerper aller Menschen brauchen Trinkwasser, um zu leben. Seit Beginn der 90er Jahre wird die Wasserversorgung in immer mehr Industrie- und Entwicklungslaendern privatisiert; das Wasser erhaelt als Ware Einzug in die globalen Kommerzialisierungs- und Distributionskreislaeufe; die Versorgung unterliegt damit mehr und mehr den Marktgesetzen. Die Wertschoepfung durch den Verkauf von Wasser zu >angemessenen< Preisen ist vielerorts Bedingung fuer internationale Hilfen. So war kuerzlich z.B. ueber Ghana zu lesen: Weltbank und IWF fordern von der Regierung als Gegenleistung fuer Schuldenerlass und neue Kredite, den Wassermarkt fuer internationale private Investoren weiter zu oeffnen und Preiserhoehungen durchzusetzen, um kostendeckend zu arbeiten. Auf der anderen Seite werden der Ghana Water and Sanitation Company von der Weltbank keine weiteren guenstigen Kredite zur Verfuegung gestellt, weil sie als marode und nicht reformierbar angesehen wird. Die Prioritaeten der Investoren liegen dabei auf der Versorgung der zahlungskraeftigeren Bevoelkerungsgruppen in den Staedten, die Grundversorgung aermerer Menschen auf dem Land bleibt dem Staat ueberlassen. Die Investitionen muessen sich selbstverstaendlich auszahlen. Kein spektakulaerer Fall, eher wohl einer unter unzaehligen, aber beispielhaft fuer die Bedeutung von Wasser als Oel des 21. Jahrhunderts. Die Distributions- und Wertschoepfungsprozesse der herrschenden Ordnung bringen zwangslaeufig Ungerechtigkeit und Elend hervor. Zynisch wird es dann, wenn es um elementare Versorgungsfragen geht. Ob Wasserkonsument in Afrika oder Wasserproduzent in den Chefetagen von z.B. Nestle: beide brauchen Wasser, um zu [ueber]leben. Hierin liegt die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, von der jedes progressive emanzipatorische politische Projekt ausgehen muss: Gleichheit nicht im Sinne von Ausloeschung der Differenz, sondern durch Anerkennung der gemeinsamen Grundlagen und Beduerfnisse der menschlichen Existenz.

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