Schlechte Noten: Warum Online-Journalismus noch in den Kinderschuhen steckt

So wie Online-Journalismus heute funktioniert, ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. In Kommentarbereichen kann der Leser noch immer keinen Einfluss auf den Artikel ausüben und investigativer Journalismus weicht mehr und mehr der schnellen Nachricht. Daher verteilte der Journalismusforscher Jay Rosen nur befriedigende bis schlechte Noten als er kürzlich auf dem Personal Democracy Forum zur “Geschichte und Zukunft des Profi- und Amateurjournalismus (Pro-Am)“ dozierte. Der Journalist und Blogger Joseph Stashko war dabei und schaut sich im folgenden Beitrag die von Rosen kritisierten Konzepte genauer an. Ein paar Verbesserungsvorschläge hat er auch in petto.

1. Der Kommentarbereich – Note: 3 minus

Der Kommentarbereich sollte Fachwissen liefern und die Zuverlässigkeit der Informationen verbessern. Die Umsetzung dieses Konzepts schafft es laut Jay Rosen allerdings nur auf eine 3 minus. Kommentarbereiche werden oft als etwas verkauft, das die Arbeit der Journalisten verändert hat. In gewissem Sinn hat es das auch. Journalisten können “unter dem Strich” sehen, was die Öffentlichkeit denkt. Leser können auf Ungereimtheiten hinweisen und Fehler korrigieren.

Meistens werden Kommentarbereiche aber dafür verwendet, eine Diskussion über den Artikel anzuregen, die noch lange nach dessen Veröffentlichung weiter geführt wird. Das Hauptproblem ist allerdings, dass das Kommentieren erst nach dem Erscheinen des fertigen Artikels möglich ist. Kommentare sind immer noch davon abhängig, dass ein Journalist hochlädt, was er als das vollständige Bild ansieht und die Öffentlichkeit dann vollendete Tatsachen diskutieren lässt. Dynamische Kommentar-Threads könnten die Entwicklung von eigenständigen Geschichten ermöglichen.

Jeff Jarvis wurde kürzlich heftig kritisiert – für seine (tendenziell ungenau wiedergegebene) Meinung über den Artikel als live evolvierende Textform. Doch seine Idee der dynamischen Nachrichtenerstellung kann mit besseren Kommentarbereichen vorangetrieben werden. Nicht jeder ist bei Twitter, Facebook oder anderen Sharing-Netzwerken aktiv. Aber viele Leute lesen Nachrichten online. Die Kommentarbereiche für die Nachrichtensammlung und Präzisierung zu nutzen ist naheliegend. Im Artikel postet der Reporter sein Wissen, sobald er oder sie es in Erfahrung bringt und die Kommentare helfen dann, vorhandene Lücken zu füllen.

Wer die 1:9:90-Regel kennt (wenn 100 Leute mit einem Artikel zu tun haben, ist eine Person der Verfasser, 9 kommentieren und 90 weitere Personen lesen den Artikel nur), der weiß, dass Beteiligung so einfach wie möglich gestaltet werden muss. Ein Formular auszufüllen, bei dem man angibt, in welche Kategorie der Kommentar fällt, oder Factcheck-Boxen ausfüllt, vereinfachen Berichterstattung und machen die Kommentarsektion besser als die Nasenlänge, um die die Kommentar- und Meinungsseite des Guardian Comment is Free uns momentan voraus ist.

2. Investigativer Pro-Am-Journalismus – Note: 6 minus-minus

Investigativer Journalismus wird oft als die Verkörperung von Journalismus angesehen – ein Mittel, die Macht und ihre Verwicklung in Korruption unter Kontrolle zu halten. Traurigerweise wird investigativer Journalismus nur begrenzt eingesetzt, weil Geld dafür benötigt wird und Nachrichtensender immer auf der Jagd nach der schnellen Nachricht sind. Aber wie kann investigativer Journalismus durch Profi-und Amateurjournalismus verbessert werden?

Das weitläufige Netzwerk der Sozialen Medien kann auch für groß angelegte investigative Nachforschungen genutzt werden. Wenn eine Zeitung Grund hätte, eine Untersuchung beispielsweise zu einer Finanzinstitution zu machen, könnte sie ihre “Kontakte” weitaus besser nutzen als es heute getan wird. Informanten werden im Journalismus häufig wie Huren behandelt – sie werden kontaktiert, wenn sie gebraucht werden, für einen bestimmten Zweck und einen begrenzten Zeitraum. Investigativer Profi- und Amateurjournalismus könnte Nachrichtenorganisationen dazu bringen, von der Kraft des Netzwerkes und seines Wissens über einen viel längeren Zeitraum hinweg Gebrauch zu machen.

Wie könnte das effektiv getan werden? Zuerst muss für jeden Teilnehmer festgestellt werden, bis zu welchem Level er oder sie sich in ein Projekt einbringen kann. Ganz oben würde man Finanzanalysten einbeziehen, die Spezialwissen besitzen und wollen, dass sich das gesamte Finanzsystem verändert. Auf einem tieferen Level sind Menschen, die einen eher lokalen Blick auf Dinge haben: Experten, die die Auswirkungen der Institution in ihrem Teil der Welt sehen, aber nicht das Gesamtbild im Auge haben. Und ganz unten ist die Öffentlichkeit, die gewillt ist, sich durch einen Berg von Informationen zu arbeiten und Relevantes zu identifizieren.

Aus den Bruchstücken wird ein ganzes Bild

Soweit ist das bisher schon gemacht worden. Der Guardian arbeitet viel mit dieser Methode. Das letzte Beispiel dafür sind die E-mails von Sarah Palin, die wenig Nachrichtenwert haben aber ein guter Beweis dafür sind, wie diese Art von Journalismus funktioniert. Netzwerke zu verwenden, um Leuten zu helfen aus den Bruchstücken ein gesamtes Bild entstehen zu lassen, ist eine entscheidende Maßnahme, die Nachrichtenorganisationen anwenden sollten (Rosen weist darauf hin, dass das schon vor der Finanzkrise hätte getan werden können).

Um genau zu sein: 2011 machen wir schon viel, aber wir sollten noch viel mehr machen. Rick Waghorn hat erkannt, dass wir eine Mentalität der Gemeinschaft von inhaltsgesteuerten Ausgangspunkten hin zu Dingen wie Werbung brauchen. Das sollte auch für alle Bereiche einer Nachrichtenorganisationen gelten, aber die Art wie Inhalte produziert werden, ist immer noch weit davon entfernt perfekt zu sein. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, es dauerte tausende von Jahren bis die Stadt zu dem wurde, was sie heute ist. Bleibt zu hoffen, dass der Journalismus nicht so lange benötigt, um sich zu erneuern.

Anm.d.Red.: Der Beitrag wurde von Anne-Christin Mook aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Das oben Foto kommt von der State Library and Archives of Florida (by-nc-sa)

31 Kommentare zu “Schlechte Noten: Warum Online-Journalismus noch in den Kinderschuhen steckt

  1. Denkt man in größeren Zeiträumen, so beginnt die Entwicklung des Internet als eine post-organische Gemeinschafts-Ebene doch gerade erst. THEORETISCH gab es schon seit dem philosophierenden kanadischen Mönch Teilhard de Chardin in den späten 50er Jahren die Begrifflichkeit einer Sphäre, in der alles Denken, Erfinden und Kreieren der Menschheit aufgehoben ist, die NOOSPHÄRE. Heute entwickelt sich das INTERNET dazu, mit allen Diskussions- und Austausch-Prozessen, es reicht in die reale Waren-Welt hinein (die Online-Shops als Beispiel) und es wiederspiegelt die finanziellen Spekulations- und internationalen Transaktions-Vorgänge des Hochkapitalismus. Ein in bestem Sinne INTERAKTIVER Journalismus wäre da auch eine weitere Facette, ein weiterer Spiegel des Geschehens in der Welt.

  2. oha, das sind aber schlechte Zensuren für den Online-Journalismus. dabei sind UK und die USA doch auch viel weiter als hier in Deutschland. was hätte Rosen wohl den hiesigen Angeboten für Noten gegeben?

  3. ‎”Haben Leser wirklich sooo große Lust, sich aktiv in einem Lexikon-Artikel einzubringen?” fragte der Brockhaus. “Aber klar doch!” sagte die Wikipedia …

  4. @#4: das ist natürlich ein schönes Beispiel! Aber es gibt schon einen Unterschied- oder? Wikipedia erzählt keine Geschichten, macht keinen Journalismus – und ist ein eigener, ein einzigartiger Planet ohne, was die Gewichtsklasse angeht, vergleichbare Nachahmer…

  5. Wenn man die aktuelle Diskussion zu der Berichterstattung über das Attentat und auch den medialen Umgang verfolgt, sieht man ja schon dass es ein Interesse daran gibt, Nachrichten mitzugestalten.

  6. @#8: Naja genaue Foren gibt es dafür ja nicht mehr, sondern die Kritik wird in Communitys (Twitter, G+) und einzelnen Blogs geäußert:

    ( http://www.google.de/searc​h?sourceid=chrome&ie=UTF-8​&q=spiegel+berichterstattu​ng+attentat&qscrl=1#q=spie​gel+berichterstattung+oslo​&hl=de&tbo=1&qscrl=1&outpu​t=search&source=lnt&tbs=qd​r:w&sa=X&ei=F3suTr6VDYjHsw​bJm4T2Dw&ved=0CAsQpwUoAw&b​av=on.2,or.r_gc.r_pw.&fp=a​71b945ed8399234&biw=1255&b​ih=666 )

    vielleicht findet sie auch im Forum bei SpOn statt oder so, aber da schaue ich ungerne rein.

  7. @#11: das sind Beispiele für Bürgerjournalismus — oder? ich bin großer Fan von sowas. Die Frage ist: Kann eine große Zeitung wie die FAZ z.B. sich soweit öffnen, dass die Leser ein gleichberechtigtes Mitsprache-Recht bekommen?

  8. Ja, das sind Beispiele für Bürgerjournalismus. “Vor Ort” gibt es viele solcher gut funktionierenden Beispiele. Für überregionale Blätter/Medien braucht es sicher andere Beteiligungsformen. Interessant ist z.B. was CNN mit iReport (http://ireport.cnn.com/) macht. Da sind User praktisch Ideengeber für Stories. Medien haben m.E. sehr viele Möglichkeiten der “Kundenintegration”, so würde man es im Dienstleistungsbereich nennen.

  9. Das Interesse am Mitgestalten von Nachrichten ist sicher begrenzt. Wer das wirklich will und kann, eröffnet über kurz oder lang seinen eigenen Blog.

  10. @Holger Nohr: “Kundenintegration”… warum hat man bislang nur in den USA verstanden diesen Ansatz auf die überregionalen Massenmedien anzuwenden? (iReport ist ein gutes Beispiel) Warum gibt es sowas nicht in Deutschland?

  11. Zum Thema Miteinbeziehen von Lesern in journalistische Beiträge sag ich nur: Viele Köche verderben den Brei.

  12. Da gibt es wohl mehrere Gründe: In den USA scheint mir der wirtschaftliche Druck auf die Massenmedien (insbes, Zeitungen) bereits wesentlich höher zu sein – Kundenintegration und -bindung werden dann schnell ein Thema. Grundlegender noch: U…S-Medien begreifen sich viel stärker als Dienstleister. Bei diesem Verständnis ist Kundenintegration immanent. Und letztlich sind sind die Geschäftsmodelle deutscher Massenmedien immer noch sehr auf das “Senden” von Content ausgelegt, weniger auf eine Interaktion mit Lesern, Hörern oder Zuschauern. Trotzdem, es gibt durchaus Ansätze: das “TVLab” von ZDFneo oder die Idee von Center TV, Zuschauer über Facebook in Redaktionskonferenzen einzubeziehen. Die überregionalen Nachrichtenmedien tun sich allerdings deutlich schwerer …

  13. @#19: Kommt immer drauf an, ob der Zugang auch Neuer Ideen zum jeweiligen Markt nicht von jeweiligen Bigshots zu eigenen Gunsten erschwert oder verunmöglicht wird.

  14. @#18 die Frage ist doch aber für wen sollen Medien der Dienstleister sein?

    @#19 “ist der Markt doch das effektivste Instrument der Demokratie?” – solche Sätze mag ich nicht. Der Markt ist nie für die Demokratie effektiv, sondern nur für die die ihn nutzen.

  15. @BGRedaktion&Holger Nohr: deutschland, usa, england, die unterschiede wachsen, aber ich bin sehr optimistisch, dass deutschland eines tages seine eigene online-kultur haben wird, es ist alles langsam hier, aber das bedeutet nicht schlecht, natürlich ist langsam im internet wie der tod, aber langsam entwickeln sich auch die guten dinge, die bestand haben können, das ist meine hoffnung.

  16. @#16: unglaublich finde ich diese aussage: “Viele Köche verderben den Brei.” die demokratie ist doch keine suppe und noch lange kein produkt eines meisterkochs!

  17. @#22: gute Frage: jetzt, wo die Anzeigenkunden wegbrechen, müssen sich die Medien neu orientieren, sie müssen ihre Rolle neu definieren. Vielen in Deutschland fällt aber schwer das Selbstbild des Unternehmens anzunehmen. Viel lieber ist man Public Service: Dienstleister der Öffentlichkeit. So liegt nur ein Schluss nahe: die Medien Deutschland wünschen sich eine Verstaatlichung.

  18. “Democratizing Innovation” (Buch von Eric von Hippel) ist durchaus in englischsprachigen Ländern ein Ausdruck, wenn es um user-getriebene Innovationen geht. Übertragen auf die Massenmedien lässt sich durchaus von Demokratisierung sprechen, wenn User/Kunden/Leser sich mit eigenen Ideen, Beiträgen und Meinungen beteiligen. Massenmedien sind aus marktlicher Sicht zunächst Dienstleister für ihre User. Wenn User zu dieser Dienstleistung beitragen (mit Ideen, etc.), so kann man m.E. von einer Demokratisierung der Massenmedien sprechen.

    Wenn wir die Perspektive wechseln und die Massenmedien als demokratische Institutionen ansehen, so ist diese Beteiligung eben auch tendenziell förderlich für die Demokratie. Hier sind marktliche und demokratische Ziele einmal konform. Aber Marktversagen erleben wir ja oft genug …

  19. @#29: Dort werden interessante Fragen aufgeworfen, besonders natürlich nach der Rolle und dem Selbstverständnis von Journalisten angesichts Social Media:

    “…if everybody is just sharing links and copying and pasting who is going to pay for the content at the source in order to pay the journalists and content producers?”

    Schalgend sind die Erfahrungen eines Journalisten, der schnell 15.000 Follower durch das Posten der ersten Fotos von Amy Winehouses Haus gewann:

    “I had thousands of people who started to follow me because I was outside Amy Winehouse’s home as the news broke, but they ‘unfollowed’ me just as quickly on Sunday when I tweeted about my neighbour’s inability to light their barbecue.

    Social media is a hugely powerful tool whose importance many news organsations are yet to grasp. But if you believe that it’s going to fundamentally change the way news is gathered and reported, I think you’re wrong.”

    Am Ende wird dann auf die Autorfunktion der Nouvelle Vague Bezug – als Vorläufer des Autorenfilms, die mit mit der Rolle des heutigen Social Media Journalisten / Schreibers verglichen wird:

    “The use of mobile footage and live-blogging could be interpreted as being placed in the scene while the “auteur theory” can be applied to far more personal aspect of blogging. As a broadcast journalist I’m trained to be impartial and stick to the facts but in my online work opinion plays a far more dominant role.”

    Die Auseinandersetzungen und Erneuerungen um diese “Neue Welle” des Journalismus ist für mich eine der Interessantesten – auch im Kontext der Schreib-/ Literatur- / Hypertext- AUTOR- Debatten letzten Jahrzehnte …

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