Gefangen im Sex-Inferno: Joe Stretchs Debuetroman >Widerstand< kennt keine Hemmungen

Wie wird man eigentlich ein Kultautor? Gut aussehen, den richtigen Namen haben und ein Buch schreiben, das einschlägt wie eine Bombe. Joe Stretch aus England vereinigt diese drei Kriterien. In seinem Debuet-Roman laesst er fuenf junge Leute wie Tiere durch die Clubs und Stripbars Manchesters streifen. Ihre Welt dreht sich um Sex, ihre Welt ist Sex. Berliner Gazette-Redakteurin Magdalena Taube nimmt den jungen Kultautor und sein erstes Buch unter die Lupe.

Die langen Beine in schwarze Roehrenjeans gesteckt, ein einfaches graues T-Shirt ueber den schlaksigen Oberkoerper geworfen, ein umwerfendes Laecheln und genau die richtige Frisur auf dem Kopf – so springt Joe Stretch auf die Buehne, um mit seiner Band aufzutreten. >I need a short sharp shock!<, kreischt er ins Mikrofon, das Publikum schwitzt, jubelt und tanzt. Die Lesungen des jungen Mannes laufen aehnlich ab. Joe Stretch ist naemlich nicht nur Saenger und Songwriter, sondern auch Schriftsteller. Gerade ist sein Debuetroman >Widerstand< erschienen. In seiner Heimat England wird Stretch als der neue Kultautor seiner Generation gefeiert. Doch wie wird man so etwas eigentlich - Kultautor? Man muss auf jeden Fall mehr koennen als einfach nur schreiben. Zunaechst braucht man einen guten Namen - den hat Joe Stretch. Das Aussehen spielt natuerlich auch eine wichtige Rolle. Stretch ist ein huebscher Kerl, der aussieht, als haette er schon mal gemodelt. Jung sollte man sein - Stretch wurde 1983 geboren. Ausserdem hilfreich: Mitglied einer angesagten Electro-Death-Pop-Band zu sein. Ein eigener YouTube-Channel mit schraegen Leseperformance-Clips und eine Facebook-Seite sollten auch zum Repertoire gehoeren. Aber das Wichtigste bleibt trotzdem: Ein saucooles Buch zu schreiben, das einschlaegt wie eine Bombe, etwas total Neues, >the next big thing<. Und >Widerstand< scheint genau so ein Kracher zu sein. Stretch laesst darin fuenf junge Leute wie Tiere durch die Clubs und Stripbars Manchesters streifen. Ihre Welt dreht sich um Sex, ihre Welt ist Sex. Sie reiben sich kaputt an sich selbst und aneinander. >Sex ist ein erstickender Machtwettkampf. Gucken, glotzen, beruehren, ficken, sich verlassen, vermissen, aufgeben, leben, es wieder versuchen und wieder, es versauen, anal, aufhoeren.< Die Jungs in >Widerstand< haben eine Dauererektion und kommen bei den Frauen so gut wie nie zum Stich. Ihr Leben scheint aus endlosem >Wichsen< zu bestehen. Die Maedchen werden fuer ein bisschen Kohle zu Sexsklavinnen, die sich ihre Orgasmen spaeter beim Shoppen holen - und das ist nicht metaphorisch gemeint.

Die fuenf sind auf der Suche nach Glueck und suchen es im Sex. Von der Liebe haben sie auch schon mal gehoert. Johnny, eine der maennlichen Hauptfiguren, hat da seine Erfahrungen gemacht: >Die Liebe ist, als wuerde man Formaldehyd trinken oder den Kopf in gefrierendes Wasser tauchen.< Sie suchen nach den immer haerteren Kicks. Die Maedels treiben es schliesslich mit Maschinen, die Jungs finden Gefallen daran, Frauen zu schwaengern und die Kinder dann zum Spass abzutreiben. Jedes zweite Wort, das aus den Muendern dieser Kaputten kommt, hat entweder mit einer Koerperoeffnung oder einer Koerperfluessigkeit zu tun. Momente der Zaertlichkeit werden umgehend mit dem Hammer zerschlagen. Der Erzaehler ist selbst nicht Teil des Geschehens; er schaut aus der nahen Zukunft auf unsere Gegenwart. Mit der Neugier eines Historikers beobachtet er den Beginn des 21. Jahrhunderts, eine Zeit, in der die Menschen sich >zu Tode fickten<. In >Widerstand< gibt es keine Kompromisse. Diesem Sex-Inferno kann keiner entkommen. Auch wenn Stretch sich in Interviews gern als Moralist gibt, der die Allgegenwart der Pornographie anprangert, ist es die Pornographie, die seinen Amazon-Verkaufsrang in die Hoehe schnellen laesst. Solch detaillierte Analsex-Szenen hat es wirklich schon lange nicht mehr gegeben [>Feuchtgebiete< habe ich noch nicht gelesen]. Nach fast vierhundert Seiten Nonstop-Penetration wuenscht man sich vielleicht, dass der erste Kultautor oder die erste Kultautorin der Nuller-Jahre wirklich etwas gewagt haette - und ein Buch ueber Liebe geschrieben haette. Aber die Liebe ist vielleicht nicht hart genug.

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