Nach dem Erdbeben in Japan: “Facebook und Twitter sind meine Rettungsanker.”

Immer mehr Menschen verlassen Japan. Botschaften westlicher Industrienationen fordern ihre BürgerInnen auf, heimzukommen; ausländische Firmen fliegen ihre MitarbeiterInnen aus. Die Berliner Gazette-Autorin Jacinta Hin, die seit mehr als 20 Jahren in Tokio lebt, gehört zu einer Gruppe von Ausländern, die noch in Japan ist und das Land nicht verlassen will.

Zurzeit erleben wir alle hier etwas, das wir noch nie erlebt haben. Wir haben weder ein Handbuch griffbereit, in dem wir nachschlagen können, wie wir mit dieser Situation umgehen, noch wissen wir, was als nächstes passieren wird. Es ist real und surreal zugleich. Wir leben von einem Moment zum nächsten, von einem Tag zum anderen.

Warum ich hierbleibe

Hier in Tokio versuchen wir normale Dinge zu tun, aber nichts fühlt sich normal an. Das normale Leben ist vorbei. Wir leben bereits jetzt ein anderes Leben. Unsere Prioritäten haben sich verschoben, Beziehungen haben sich verändert. Wir erleben uns als Gemeinschaft – eng miteinander verbunden und mit denselben Zielen. Wir haben alle dieselben traumatischen Ereignisse hinter uns und wir sind uns alle der Tatsache bewusst, dass wir in Tokio Glück hatten – verglichen mit dem Nordosten.

Ich weiß, dass sich alle Welt alle Sorgen macht wegen des Atomkraftwerks in Fukushima und dass Berichte zunehmen über Menschen, die Japan verlassen. Ich respektiere ihre Entscheidung, besonders wenn Kinder involviert sind, ich habe aber nicht vor, ihrem Beispiel zu folgen.

Viele von uns expatriats haben enge Verbindungen zur Stadt und ihren Bewohnern. Wir haben Familie, Freunde, Kollegen oder Angestellte, für die wir verantwortlich sind. Und viele von uns sehen keinen Grund zu gehen. Wir alle verfolgen die Nachrichten, wir haben hier viele Informationsquellen, und wir tauschen ständig Informationen aus. Facebook und Twitter spielen dabei eine herausragende Rolle. Für mich dienen sie momentan als Rettungsanker.

Panik und Angst überwinden – durch Information

Es ist allen klar, dass dies eine Zeit der Unsicherheit ist und dass niemand genau sagen kann, was passieren wird. Nahezu stündlich gibt es Berichte über neue Ereignisse. Gleichzeitig erhalten wir mehr und mehr Hintergrundinformationen, die uns helfen, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Es hilft uns dabei ruhig zu bleiben, die richtigen Entscheidungen zu treffen und vorbereitet zu sein.

Das Update der britischen Botschaft vom Dienstagnachmittag ist in Tokio weit verbreitet und oft gelesen worden. Obwohl wir nichts mit absoluter Sicherheit sagen können, erscheint dieses Update des obersten wissenschaftlichen Beraters der britischen Regierung vielen von uns sehr sinnvoll. Es hilft uns, besser informiert zu sein und über die Panik und Angst hinwegzukommen – das ist in unserer jetzigen Situation unheimlich wichtig.  Das bedeutet nicht, dass wir die Realität verleugnen oder übermäßig positiv denken. Wir denken hier alle sehr realistisch.

Unsere Not hier, obwohl sie keine Nichtigkeit ist, verblasst im Vergleich zu der Lage der Menschen im Nordosten. Jedes Mal, wenn wir ein Erdbeben oder ein Nachbeben in Tokio spüren – und davon gibt es viele – wissen wir, dass diese im Nordosten vermutlich noch stärker zu spüren sind. Jedes Mal, wenn wir uns die leeren Regale in den Supermärkten anschauen und uns fragen, ob wir nicht anfangen sollten Essen zu hamstern (und das sollten wir nicht, es gibt immer noch ausreichend Nahrungsmittel hier), denken wir an die Menschen in den Notfallrettungslagern, wo die Nahrungsmittel Tag für Tag weniger werden. Mancherorts gibt es Berichten zufolge nur noch ein Reisbällchen am Tag. Und wenn wir in Tokio uns schon über die Strahlung sorgen machen, dann können wir nur ahnen, was in den Köpfen derer vorgeht, die näher am Atomkraftwerk und in den unmittelbar betroffenen Krisengebieten leben.

Bitte denkt weiterhin an uns, sendet uns eure aufbauenden Worte und betet für Japan. Die JapanerInnen wissen es wirklich zu schätzen. Sie fühlen sich von der Welt sehr gut unterstützt. Die Worte der Bewunderung dafür, wie die JapanerInnen seit Freitag letzter Woche mit der Gesamtsituation umgehen, mitgeteilt über die Presse, private Nachrichten und Twitter (das ist hier sehr groß in Japan), macht sie stolz und hilft dabei, die Stimmung zu verbessern. Das alles hilft. Wirklich.

Anm. d. Red.: Im Kommentarbereich von 7 Thesen zum Erdbeben in Japan findet sich die englischsprachige Originalversion dieses Texts. Von Anne-Christin Mook ins Deutsche übersetzt.

11 Kommentare zu “Nach dem Erdbeben in Japan: “Facebook und Twitter sind meine Rettungsanker.”

  1. Things seem to calm down in Tokyo, which is helpful so we can focus fully on helping the people in the north. So many people are already volunteering, doing things. You hear all these wonderful stories. One of my people (in company), Japanese, discusssed with her husband the possibility to go to Kyushu, their hometown, but they decided in would be “wrong action” as they don’t want to use airplane fuel. Another bilingual friend is going to the north as a volunteer translator with the foreign aid groups for rescue work. And so on.

  2. Bravo! Das ist eine starke Leistung! und wirklich wichtig für uns auch endlich einmal etwas persönliches zu lesen aus dieser gnadenlosen Situation

  3. anrührender Bericht aus Tokio – und das unterstützt (journalistisch) natürlich die Solidarität.

  4. sehr persönlicher Bericht,Danke an Jacinta.Ich bewundere ihren Mut und wünsche ihr viel Glück in dieser schwierigen Zeit

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.