Japan als Aquarium

In Japan gibt es viele Aquarien. Sie kamen Schritt fuer Schritt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ins Land. Fuer die Japaner verkoerpern sie die Erfahrung von Zeit. Die Wasseruhr namens Rohkoku kommt zwar aus China, aber in Japan wurde sie zum Inbegriff des Konzepts der Relation zwischen Wassermasse und Zeit. Das Aquarium praesentiert kompakte Mikrokosmen so wie dies zum Beispiel Miniaturgaerten tun. Ich sehe das Aquarium in enger Verbindung zu >Ma< [deutsch in etwa: Negativraum], ein Konzept, welches Zeit und Raum umfasst. Dazu muss ich etwas ausholen. Aber keine Angst, ich fasse mich kurz.

Wichtig in Bezug auf die Zeiterfahrung in Japan ist der >Zeittag<. Eigentlich ist der >Zeittag< am 10. Juni gar nicht so bekannt. Der Grund, warum dieser Tag vor 89 Jahren eingefuehrt wurde, ist, dass nach dem Sonnenkalender am 25. April des Jahres 671, waehrend der Asukazeit, die erste Wasseruhr [Rohkoku] gebaut wurde. Heutzutage haben die meisten Menschen diesen Tag vergessen, aber es war ein wichtiges Ereignis in der japanischen Geschichte. Davor gab es keine Uhren und die Japaner hatten kein Zeitkonzept. Nun konnten sie die unsichtbare, abstrakte Existenz der Zeit durch die Wasseruhr materialisieren. Die Wasseruhr misst Zeit in Beziehung zur Wassermenge. Die physisch angesammelte Masse an Wasser, also die materielle Menge, drueckt Zeit aus. Das japanische Konzept von >Ma< und Zeit beinhaltet seit >Rohkoku< also auch immer den Raum. In Europa hatte Raum im Zeitkonzept eine eigenstaendige, andere Bedeutung; dort gibt ist die Geschichte der Sonnenuhr, in der die Bewegung des Schattens einer abgestuften Nummernreihe folgt. Natuerlich hat der sich bewegende Schatten nichts mit Masse zu tun - im Gegensatz zur Wasseruhr. Der sich veraendernde Schatten wird zum Inbegriff von fortlaufender Zeit und so wird der Raum in diesem Konzept nicht reflektiert. Der Japaner versteht Zeit als Kapazitaet und hat gleichzeitig ein raeumliches Zeitgefuehl. Wenn ein buendiges Oekosystem, wie das eines Aquariums, Aufrecht erhalten werden kann, koennen Verbindungen zur komplexen grossen Welt unnoetig werden. Ist Japan ein Aquarium? >Hikikomori<, was soviel bedeutet wie >sich einschließen oder gesellschaftlicher Rückzug< und derzeit in Japan wieder rege diskutiert wird, koennte nicht nur Entfremdung von der Gesellschaft, sondern auch Unabhaengigkeit bedeuten. Japan koennte versuchen eine unabhaengige Kulturwelt zu schaffen. Das Zirkulationssystem, welches zur Entstehung zeitliche Dauer, geographische Expansion und Infiltration gebraucht hat – dieses Weltsystem wird durch die Internetgesellschaft demontiert. Ploetzlich wird aus Zeit und Raum ein Netz geformt, welches beides vereint: der Knotenpunkt >cyber-space/Ma<. Im Gegensatz zu vorigen Medienaustauschsystemen, die die Luecke zwischen Zeit und Raum fuellten, kennt das Internet viele Antworten auf das flexible Netz von >Ma<, also von Raum und Zeit. Auch in diesem Sinne ist das Internet ein revolutionaeres System der Medienkultur. Das Wort >Network< sollte nun umbenannt werden in >Webwork<. Das Internet hat das nationale Copyright durch eine Diaspora von Informationen ersetzt. Veraenderte Bedingungen der Wahrnehmung, wie zum Beispiel die Schwerelosigkeit und die Anti-Zeit des Cyberspace, leisten aquatischen Tendenzen Vorschub. Das Design des neu entstehenden Oekosystems der Information geht auf die historische Erfahrung und das Wissen zurueck, das Mensch und Natur miteinander verwebt sind. Wer vom aquatischen Zeitalter spricht, meint nicht zuletzt eine fliessende, Antigravitationsprojektion der Welt. Einer Welt uebrigens, wie sie sich vielleicht in der jetzigen Situation Japans abbildet. In Japan zeichnen sich kulturelle Tendenzen ab, die die Welt ausschliessen, gleichzeitig sind die Erschuetterungen der oekonomischen Krise auf der Insel zu spueren. Das ist >Hikikomori< und dieses Phaenomen nennt man >Isolation im Paradies< oder >Galapagos-Strategie<. Die >Galapagos-Strategie< wird zum Slogan der Unabhaengigkeit von der Globalisierung. Wir sind optimistisch, dass die kulturelle Besonderheit Japans und das Abgeschottetsein zu einer Reform der Industrie fuehren werden. Dieses Verlangen kann man vielleicht als die Hoffnung einer Aquarium-Gesellschaft beschreiben, ein originaeres Oekosystem zu besitzen, das frei in der Welt flottiert. Substantielle Veraenderungen geschehen bei >Nico Nico Douga<. Der wohl groesste Videohoster ist derzeit der heilige Boden der Otaku-Kultur in Japan. Bei >Nico Nico Douga< passiert die raeumliche Interaktion mit Videos - ein wichtiger Fortschritt der sozialen Medien. Das ist eine neue Methode am >Ma< zu partizipieren. >Ma< wird zum >Fisch der Revitalisierung< und schwimmt auf dem Bildschirm. >Nico Nico Douga< koennte ein Aquarium im Cyberspace sein. Anders als bei YouTube wird >Ma< durch Zeit und Raum des Videos hervorgerufen. Die Beteiligung des Users am eingestellten Video wird zu einer Reflektion der unzaehligen Stimmen an der Oberflaeche. Ein aquatisches Zeitalter durchdringt die existierenden Medien und hat die Kraft eines sich ausbreitenden Wassers. Die Rolle dieser neuen, fliessenden Medien beschreibt >Nico Nico Douga< mit folgenden Worten: >Wir streben keine anorganische kollektive Intelligenz an, sondern eine menschliche.< Was wir nicht vergessen sollten, ist, dass die Medien das unablaessige Verlangen der Menschen nach Verlangen-produzierenden Medien reflektieren.

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