Jahresrueckblick des Grauens

Ich hasse Jahresrueckblicke, Charts und schriftliche Ansammlungen obskurer persoenlicher Hoehepunkte. Und dies bei weitem deutlicher und unnachgiebiger, als die Laborkreuzung von Pest, Cholera, Typhus und regelmaessigem fruehen Aufstehen zusammen. Das ist nun ein recht viel versprechender und fruehlingshaft-milder Einstieg in einen Text, der von mir als oeffentliche Absonderung zu besagtem Thema, seitens der geneigten Redaktion, verlangt wurde.

Dass grosse Fernsehsender und Zeitungsredaktionen mittels Jahresrueckblick einfach und preiswert Quote und Auflage am Ende eines Jahres machen, kann mich nicht mehr weiter erregen. Sich ueber dergleichen zu delektieren, waere so unsinnig, wie die stete Wiederkehr der Gezeiten zu beklagen oder alle 28 Tage des Nachts den Vollmond lautstark zu verwuenschen. Brot und Spiele, Mitleid, Erregung, Furcht und schliesslich Katharsis, eben eine geistige Darmreinigung am Ende des gregorianischen Kalenderjahres. Das ganz alte aristotelische Rein-Raus-Spiel halt. Jeder Witz darueber haette die Frische von Sokrates Wutrede ueber die faule, toerichte Jugend. Eine 2400 Jahre alte Pointe…Wer will die schon hoeren? Mich erschrickt an diesen Spektakeln eigentlich eher meine eigene galoppierende Wahrnehmung:

Wenn ich klopshafte Gewichtheber medaillenbehangen weinen sehe und mit aeusserster Verwunderung feststelle, dass sich solche Dramoletten noch innerhalb der letzten zwoelf Monde abgespielt haben sollen, waehrend meine Erinnerung daraus laengst eine knatterige schwarzweiss Wochenschau, noch mit Mussolini winkend auf der Ehren-Tribuene gemacht hat, denke ich: Hoppla! Viel schlimmer sind die von geckenhaftem Ausgrenzungsbewusstsein durchtraenkten Jahreshoehepunkte in der Musikpresse und den Feuilletons. Ekelerregende Ausfluesse missionarischen Pamphletismusses. Ein jeder uebertrifft den anderen in der oeffentlichen Zurschaustellung der besonderen Erlesenheit seines eigenen Geschmacks. Grauenvoll! Schwachsinn! Unerhebliche Kakophonien und Verschwendung kostbarer Ressourcen!

Nichts liegt meinem stets nur nach vorne blickenden Wesen ferner, als noch zu Lebzeiten periodische Bestandsaufnahmen zu erheben, gleichsam Kurzautobiografien gewisser Teilaspekte des eigenen Lebens, die fuer immer im Orkus der Unausgesprochenheit haetten verrotten sollen. Das ist doch Autismus in Reinkultur, mit zwanghaftem Ordnungswahn. Danach folgt eigentlich nur noch das Auswendiglernen von historischen Zugfahrplaenen vor dem ersten Weltkrieg, unter Beruecksichtigung aller ueberregional relevanten Schnellzuege jenseits des 48. Breitengrades.

Eine meiner Ex-Freundinnen besass frueher die seltsame Angewohnheit, in besonders schoenen, emotionalen Momenten, sei es auch nach einem hervorragenden Essen im Restaurant zu fragen, wie man denn die Qualitaet des soeben genossenen Risotto ai Funghi Porcini zu werten habe. Ob es nun der beste gewesen sei, oder doch nur der zweitbeste? Meist folgte daraufhin eine ausfuehrliche Litanei der sorgfaeltigsten Abwaegungen, die mich rasch zu meinen legendaeren muerrischen Gesichtsausdruecken verleiteten. Wichtige Momente musste sie derart ordnen, so wie Cordbehoste Musikredakteure seltene Bootlegs mit der Lupe beaeugen und dies Prozedere ueber viele Seiten oeffentlich zu machen wissen. Bei meiner Freundin fragte ich mich oft, ob sie insgeheim auch andere Dinge derart praezise abwog und fuerchtete stets bei einem Streit ungefragt erfahren zu muessen, doch allenfalls den drittgroessten Penis all ihrer Partner gehabt zu haben. Wie haette ich da kontern sollen: Mit dem achtschlechtesten Versoehnungs-Oralverkehr? Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.

5 Kommentare zu “Jahresrueckblick des Grauens

  1. “Never compare – never compete!”

    ein Ausspruch der einem von mir sehr verehrten Couturier zugeschrieben wird.

    Auf der anderen Seite wollen wir doch alle wissen, auf welchem Platz der Bundesliga unser Liebligsverein gerade steht (auf dem ersten :-) bzw wo unsere Lieblingsmusik in der SPEX Liste steht (machen die das eigentlich noch – Jahresendcharts?)

    Charts reduzieren Komplexität und erhöhen die Transparenz, anhand bestimmter (fragwürdiger?) Kriterien. Sie suggerieren eine objektivierte Subjektivität, was ja schon ein Widerspruch in sich ist. Bestenfalls können sie eine Diskussionsgrudlage bilden.

    Am Ende muss doch die Lösung sein: “Nur Dein Geschmack entscheidet!” und nicht was uns das Fernsehen oder andere Medien vorsetzen.

  2. Wohlan denn, es freut mich noch unmittelbar vor Weihnachten für allgemeine Heiterkeit gesorgt zu haben…herzlichst: Ihr Dr. Aufschneider

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