Internet-Zeit

Aus dem Internet heraus betrachtet erscheint es banal, sich ueber die Gefahr eines globalen Zeitregimes den Kopf zu zerbrechen. Das Internet ist fuer die Ewigkeit: wollen wir seine Architektur verstehen, muessen wir es fuer uns nutzbar machen – eher als uns ihm unterzuordnen. Ohne Wissen kann man nichts ablehnen. Der Philosoph Paul Virilio hatte Recht, als er schrieb, dass wir nicht laenger in einer lokalen Zeitrechnung leben, wie in der Vergangenheit, als wir Gefangene der Geschichte waren. Wir leben in einer globalen Zeit. Wir befinden uns in einer Epoche, die einem globalen Unfall gleich kommt, so Virilio.

So sagte er einmal: >Ich erfahre Gleichzeitigkeit und ihre Zwaenge, die Unmittelbarkeit und Allgegenwaertigkeit der Informationsflut als eine Informationsbombe, die im Zuge der technologischen Entwicklung und Durchbrueche auf dem Feld der Telekommunikation jeden Moment droht zu explodieren.< Der Kulturwissenschaftler Stefan Heidenreich wiederum konstatierte ein andermal in der Berliner Gazette, das Internet sei eine zeitlose Sphaere. Ein gutes Beispiel dafuer sind Google-Suchergebnisse - denn es ist nicht ersichtlich, wann Dokumente ins Netz gestellt wurden. Heidenreich sagte daher eine Entwicklung in Richtung eines >zeitsensiblen< Internets voraus. Doug Kellner fasst Virilos Thesen zu Zeit und Internet treffend zusammen: >Virilo begreift Cyberspace als eine andere Sphaere. Eine Sphaere ohne Raum-Zeit Koordinaten, ohne Orientierung und Erfahrungshorizont. Eine Sphaere, in der Kommunikation und Interaktion gleichzeitig in einem neuen zeitlichen Rahmen stattfinden und alte Raum- und Zeitbegriffe hinter sich lassen. Es ist eine Sphaere, losgeloest von allen Koordinaten, in der man das Gleichgewicht des eigenen Koerpers, der Natur und der sozialen Umgebung verliert. Fuer Virilo ist es also eine entmaterialisierter und abstrakter Rueckzugsort, in dem sich Cybernauten im Raum verlieren koennen – losgeloest von ihren Koerpern und der sozialen Welt.< Jedoch, Paul Virilo spricht kaum von Computer-Netzwerken oder dem Internet im Besonderen, sondern allein von Browsern, Direktmitteilungen, Spielen und Suchmaschinen, VoIP oder Blogs. Das ist problematisch, denn die Kritiker des Internet, von Virilio bis Zizek, haben sich auf diese Weise hinter einen Jargon verbarrikadiert, der in den 1990er Jahren aufkam. Und Metaphern wie Cyberspace, Informationsstrassen und Entkoerperlichung sind in erster Linie Begriffe, die mit dem Diskurs der offline Virtual Reality verbunden sind. Durch sie haben wir eine apokalyptische Sichtweise eingenommen, wenn wir uns mit der zeitgenoessischen Theorie befassen. Statt dieser Skepsis nun aber mit unreflektiertem Technooptimismus zu begegnen, halte ich es fuer sinnvoll, die Zeitregime genauer zu untersuchen, in denen sich Internetnutzer tatsaechlich bewegen. Der italienische Theoretiker Franco Berardi [Bifo] sah in einer seiner pessimistischeren Phasen das Problem, >dass der Rhythmus des technologischen Wandels sehr viel schneller ist, als der der geistigen Entwicklung. Die Verbreitung des Cyberspace ist damit ungleich schneller, als die Faehigkeit des menschlichen Gehirns, sich an die veraenderten Gegebenheiten der Cyberzeit anzupassen. Wir koennen den Zeitraum ausdehnen, in dem ein Organismus Informationen ausgesetzt ist, aber die Erfahrung ist nicht ueber eine bestimmte Grenze hinaus dehnbar. Beschleunigung bewirkt eine Verarmung an Erfahrung, fuer den Fall, dass wir einer wachsenden Zahl von Stimuli ausgesetzt sind, die schwer verarbeitbar sind im intensiven Modus von Freude und Wissen.< Die Langsamkeit der Emotionen wird nach Bifo Schritt fuer Schritt in ein Gut verwandelt, >in einen kuenstlichen Zustand, der zu Geld gemacht werden kann. Zeit ist ein rares Gut, Zeit ist Geld. Zeit, eine nicht wegzudenkende Dimension der Lust, zerfaellt zu Fragmenten, die nicht laenger genossen werden koennen.< Statt sich nun in diesen Abwaertsspiralen zu verlieren, schlage ich ganz einfach vor, diesen Weg nicht zu beschreiten - eine regelrechte Kunst. Wir haben alle die Erfahrung gemacht, uns in den Weiten des Netzes zu verlieren: in Anwendungen auf unseren Bildschirmen, Suchmaschinen, die zu keinem Ergebnis fuehren, aufgrund von E-Mails von Freunden, die in Spamfiltern haengen geblieben sind und ueber tote Links zu nicht mehr existierenden Websites und verwaisten Blogs. Statt konservativer Argumente fuer einen Niedergang der Zivilisation in Folge der neuen Medien anzufuehren, lehrt uns unsere eigene Vorstellungskraft, wie wir die verlorene Zeit in eine nie versiegende Quelle der Einfaelle und der Subversion umwandeln koennen.

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