In der globalen Gegenwart angekommen

>Was man aber unseren Freunden im Osten in Erinnerung rufen muss, ist, dass es sich um eine globale Bewegung handelt, die die buergerliche Gesellschaft in Frage stellt.< Das schreibt Maurice Blanchot in einem Brief an einen Verantwortlichen der jugoslawischen Radio- und Fernsehanstalt.

Damit ruft der franzoesische Autor in Erinnerung, dass man ueber nationale Grenzen hinweg an einer gemeinsamen Sache arbeitet – auch wenn man manchmal, im eigenen Saft schmorend, eben dies vergisst. Im gleichen Atemzug unterstreicht er, an den Fronten des Pariser Mai 68 unterwegs, die nationale Dimension der Bewegung, die in Frankreich den >Bruch mit der gaullistischen Macht und gaullistischen Gesellschaft auf eklatante Weise hat in Erscheinung treten lassen, einen Bruch, den sie vertieft und mit allen Mitteln weiterhin vertiefen wird<. Blanchots politische Schriften aus den Jahren 1958 bis 1993, vor kurzem in einer Buchveroeffentlichung zusammengefasst, kreisen immer wieder um dieses Spannungsverhaeltnis: auf der einen Seite die Situation in Frankreich, auf der anderen Seite die Situation in der Welt. Der sonst fuer seine eher schwierigen literarischen, literaturtheoretischen und philosophischen Werke beruehmte Autor verfasst auch mit grosser Leidenschaft schlagkraeftige und leicht zugaengliche Polemiken, Flugblaetter, Briefe und Artikel, die viele Motive seiner abstrakten Werke aufgreifen. Er analysiert darin die drueckende Herrschaft de Gaulles, den altersschwachen Kolonialismus Frankreichs und den einzigartigen Moment des Bruchs, der 1968 ungeahnte Energien und Hoffnungen freisetzt.

Mehr als jedes andere Unterfangen treibt ihn das Projekt einer internationalen Zeitschrift um, die er mit Schriftstellern/innen und Intellektuellen aus anderen Laendern machen will – darunter mit Hans Magnus Enzensberger und Elio Vittorini. Enzensberger, der Blanchots Idee dieser internationalen Zeitschrift von Anfang an unterstuetzt und vorantreibt, gibt zu diesem Zeitpunkt in unregelmaessiger Folge das Kursbuch heraus, ein Sammelsurium von Texten, die jeweils um ein Schwerpunktthema kreisen. Die elfte Ausgabe widmet sich der >Revolution in Lateinamerika<. Darin findet sich ein Text von Peter Weiss ueber Che Guevara, eine Rede von Fidel Castro ueber die Fruechte der Bewegung in Venezuela, eine Antwort der Kommunistischen Partei Venezuelas auf diese Rede und ein Interview mit Douglas Bravo. Bravo, der venezolanische Guerilla-Kaempfer und Politiker, macht unmissverstaendlich klar, was in seiner Region auf dem Spiel steht: >Lateinamerika hat 220 Millionen Einwohner: Sie alle haben eine gemeinsame Vergangenheit, fast alle haben die gleiche Sprache; sie haben aehnliche Sitten und Braeuche. Die ethnologische Zusammensetzung ist in fast ganz Lateinamerika die gleiche: Indios, Weisse und Schwarze. Wirtschaftlich leiden sie unter den gleichen Problemen und sie haben einen gemeinsamen Feind: den Imperialismus und die Oligarchien; sie leiden unter der gleichen kulturellen, der gleichen oekonomischen Krise.< Es ist diese Krise, die die 220 Millionen Lateinamerikaner/innen mit Menschen auf der ganzen Welt verbindet. Selbst wenn die Krise beispielsweise in Europa andere Ursachen hat und dort anders wahrgenommen wird, der Feind bleibt derselbe: der Kapitalismus. Doch wer hat damals ein Auge fuer die internationale Dimension von 68? Wer weiss zu diesem Zeitpunkt, dass er gerade an einem Strang zieht mit Menschen, die ueber den gesamten Erdball verstreut sind? Dass auch Menschen auf anderen Kontinenten versuchen, etwas zu bewegen? Oder wird sich jeder 68er, jede 68erin nur spaeter ueber all das bewusst und dann auch nur im Zuge idealisierender Darstellungen einer einheitlichen Bewegung, die der Welt eine Alternative aufwies? Als Blanchot in einem Artikel fuer die Zeitschrift Comité schreibt, dass es niemals ein Buch ueber 68 geben wird, kein gebundenes Schriftwerk ueber den mit diesem Jahr verbundenen Bruch, so hat er eine ziemlich genaue Ahnung davon, dass das Ereignis sich der einfachen Vermittlung entzieht. Umso dankbarer muss man fuer einen Reader wie >Weltwende 1968?< sein, der aus der heutigen Sicht versucht, das Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive aufzuarbeiten. Ein Reader, der versucht, das Unmoegliche moeglich zu machen, ohne dabei in aufarbeitender Erinnerung zu versickern.

Zwoelf Autoren/innen streichen in Einzelbetrachtungen den gemeinsamen Nenner der Bewegungen und Erhebungen zwischen Lateinamerika, Europa, Afrika und Asien heraus, ohne 1968 als einheitliches Projekt zu romantisieren. Es geht eben um das >Raetsel der Gleichzeitigkeit< [Marcel van der Linden], aber auch um Zusammenhaenge, die auf den ersten Blick alles andere als offenkundig sind: der Genozid in Vietnam, der Unabhaengigkeitsprozess im Senegal, die Buergerrechtsbewegung in den USA. Selbst in Europa ist die Situation unglaublich zersplittert: Wie wollte man den proletarischen und studentischen Protest unter Franco in Spanien mit der >affirmativen Revolte< in Jugoslawien ueber einen Kamm scheren? Die sensiblen Nahaufnahmen konzentrieren sich auf den nationalen Kontext. Es wird weniger versucht, die globale Vernetztheit der Ereignisse aufzuzeigen, sondern vielmehr zunaechst einmal ueberhaupt nachvollziehbar zu machen, wie es dazu kommen konnte, dass sich Menschen erheben – dabei nicht nur Studenten/innen! – und zu einer gemeinsamen Bewegung organisieren. Wie auch bei den politischen Schriften Blanchots wird deutlich: Nur wer einen laengeren Zeitraum in Betracht zieht – naemlich die Dekaden davor und danach – und seinen Blick nicht nur auf westliche Metropolen richtet, kommt dem Phaenomen 1968 wirklich nahe.

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