Imaginaeres Europa

Es ist die Zeit, in der sich eine weitreichende Umkehrung vollzogen hat: Der europaeische Traum von den paradiesischen Inseln in der exotischen Ferne ist zu Ende, nun traeumt der entwurzelte Insulaner auf seinem Archipel von dem fernen Kontinent seiner Vergangenheit.

Der entwurzelte Insulaner, der im 19. Jahrhundert aus Holland, England, Deutschland oder Polen stammen mag, ist mit seinen Nerven am Ende, muerbe von dem Kampf gegen die Wildnis, demoralisiert von den zahlreichen Rueckschlaegen, die er insbesondere auch in kulturellen Belangen hinnehmen musste: War seine Kultur vielleicht doch nicht so ueberlegen, wie er eingangs dachte?

In diesem Zustand wird er zum Gefangenen seines Traums: gebunden an seine Niederlassung in der Fremde, wartet er auf eine Moeglichkeit, dieser Situation zu entfliehen: ein Schiff, eine Einladung, einen Freund. Diese Sehnsucht, so pointiert stellt es Joseph Conrad zumindest in seinen Romanen dar, kann wie kein anderer der Ureinwohner teilen. Denn die Umkehrung, von der ich eben sprach, bringt mit sich, dass nicht nur die Blickrichtung der Sehnsucht wechselt, sondern auch der Topos der Sehnsucht: vorher die Inseln in Uebersee, jetzt Europa. Die Sehnsucht nach dem Paradies ist nun nicht mehr exklusiv eine europaeische Sehnsucht, sondern auch die Sehnsucht der immer konkretere Konturen annehmenden Dritten Welt.

Auch aus dem einst exklusiv europaeischen Blick wird ein Blick, der geteilt wird mit jenen, die aus der Dritten Welt stammen und sich von dort wegsehnen, in eine andere, bessere Welt, das Paradies namens Europa. Dieser Moment der Entgrenzung, den Conrad auf so verstoerende Weise eingefangen hat, ist heute aktueller denn je. Wie Tom Holert und Mark Terkessidis berichten, kann man in Tanger >tagtaeglich an den Aussichtspunkten die jungen Maenner sehen, die einsam sinnierend und sehnsuechtig hinueberschauen nach Europa.< An ihrer imaginaeren Seite stehen all die im Ausland stationierten Soldaten, Manager und Diplomaten, die den Glauben an ihren zivilisatorischen Auftrag verloren haben und nur noch nach Hause wollen.

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