Im Verschwinden begriffen

Ich bin Russlanddeutscher. So eine Art Halbblueter. Deutsch koennte eigentlich meine zweite, oder auch erste, Muttersprache sein. Aber meiner Generation wurde die Muttersprache meiner Eltern leider nicht mehr beigebracht. Immer wenn ich in meiner Kindheit mit meinem Vater im Haus meiner deutschen Oma zu Gast war – meistens in der Urlaubszeit – kam ich mit der deutschen Sprache in Beruehrung. Alle sprachen untereinander Deutsch. Es war die Sprache, die sie am besten beherrschten und der sie am naechsten standen.

Kindergarten, Mittelschule – alles habe ich in der Kleinstadt Igarka absolviert. Sie liegt 163 km oberhalb des Noerdlichen Polarkreises und ist auch meine Geburtstadt. Waehrend meiner Kindheit lebten nur einige deutsche Familien dort. Es handelte sich dabei vor allem um die Kinder oder die Enkelkinder der ehemaligen Verbannten oder Arbeitslagergefangenen, so genannte >Volksfeinde<. Die Faelle des freiwilligen Hinzugs, wie bei meinem Vater, waren unter den dortigen Russlanddeutschen sehr selten. Seit 1990 lebe ich nun in der Stadt Krasnojarsk. Sie liegt am Jenissei sowie an der Transsibirischen Eisenbahn und ist mit fast einer Million Einwohnern die drittgroesste Stadt Sibiriens. Hier gibt es weitaus mehr deutsche Familien, obwohl die meisten wieder nach Deutschland zurueckgegangen sind. Deutsch wird auf den Strassen nur noch sehr sehr selten gesprochen. Und dann eigentlich nur von Touristen. Seit zwei Jahren arbeite ich hier in einem Jugendzentrum. Ich bin stellvertretender Direktor. Meine Aufgabe besteht darin, verschiedene kulturelle Veranstaltungen durchzufuehren wie Festspiele, Konzerte, Wettbewerbe usw. Ausserdem arbeite ich als Pressesprecher unseres Zentrums. Frueher war ich Fernsehmoderator. Als ich angefangen habe Deutsch zu lernen, war ich neun Jahre alt. Es war in der Mittelschule, spaeter dann an einer Paedagogischen Hochschule in der Fakultaet fuer Fremdsprachen. Es war meine eigene Entscheidung, denn ich wollte die Sprache meiner Vorfahren studieren. Deutsch zu lernen war fuer mich nicht leicht, weil bei uns die Kultur des Fremdsprachenlernens damals nicht entwickelt war. Ein Mensch, der Fremdsprachen konnte, war wie ein Wunder. Spaeter begann ich, meine zweite Fremdsprache an der Hochschule zu lernen. Es war Englisch und fiel mir noch schwerer. Heute ist die Situation im Grunde nicht anders. Fremdsprachen sind in meiner Region immer noch etwas ganz Aussergewoehnliches. Gaenzlich anders als beispielsweise in Moskau, wo jeder Dritte ein wenig Englisch kann. Wenn ich in Krasnojarsk mit dem Bus unterwegs bin und offen deutschsprachige Buecher lese, sehen mich fast alle mit grossen Augen an: >Na nu, du kannst das lesen und verstehen?<. Auch in >meinem< Jugendzentrum spielt eigentlich nur das Russische eine Rolle. Fremdsprachen sind den Jugendlichen fremd. Sie werden im Jugendzentrum nicht vermittelt. Und von zu Hause kennt sie sowieso niemand, denn die Kinder von Russlanddeutschen etwa haben wie ich die Sprache ihrer Vorfahren daheim nicht beigebracht bekommen. Deutsch wird nur in Ausnahmefaellen gesprochen. Beispielsweise dann, wenn ich ein paar Woerter auf Deutsch sage - als Witz. Dieser Humor ist das Erbe der Kriegszeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind Aussprueche wie >Hitler kaputt!<, >Haende hoch!<, >Ausweis!<, >Schwein<, >schneller<, >Auf Wiedersehen< usw. allgegenwaertig. Fast alle kennen diese Begriffe bei uns, nicht nur Russlanddeutsche. Fast alle Leute merken dabei, dass die deutsche Sprache grob klingt. Eine kurze Geschichte, die Leo Tolstoi erzaehlte, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: >Die italienische Sprache ist fuer die Liebe, die franzoesische Sprache ist die fuer die Gesellschaft, die englische Sprache ist fuer das Geschaeft [Business], die deutsche Sprache – sie ist fuer das Gespraech mit deinen Feinden und die russische Sprache ist fuer alle diese Dinge gleichzeitig.< Im Grunde genommen gibt es fuer mich im Jugendzentrum kaum Moeglichkeiten, die deutsche Sprache zu kultivieren beziehungsweise das Bewusstsein um ihre historische Stellung in Russland zu schaerfen. Im Privaten ist das anders. Zwar koennte ich nach Deutschland auswandern, wie es uebrigens fast alle meine Verwandten vaeterlicherseits schon gemacht haben - waehrend die, die noch nicht weg gegangen sind, noch davon traeumen - aber ich habe diese Ambition nicht. Mir ist wichtiger, dass meine kuenftigen Kinder nicht nur deutsche Namen tragen, sondern auch auf jeden Fall die deutsche Sprache verstehen und natuerlich auch gut Deutsch reden koennen. Dabei moechte ich ihnen helfen und >nachholen<, was mein eigener Vater versaeumt hat. Darin sehe ich meine Hauptaufgabe als >Jugendarbeiter< mit deutschen Wurzeln. Wenn ich anderen Russlanddeutschen in verschiedenen russischen Staedten wie Moskau, Samara sowie den Staedtchen und Doerfern unserer Region begegnet bin, ist mir vor allem eines aufgefallen: Meine Landsleute haben stets ein und dasselbe Motto, das unsere Vorfahren aus Deutschland mitgebracht haben: >Ordnung steht ueber allem<. Vor zehn Jahren war ich mit einer Gruppe deutscher Touristen in einer Siedlung bei Krasnojarsk, wo ueberwiegend Russlanddeutsche leben. Die Touristen, die schon rein russische Doerfer gesehen hatten, sagten, dass dies wie >zu Hause< aussah, das heisst wie in Deutschland. So rein und gepflegt war dort alles. Dennoch: Die Assimilation der Russlanddeutschen geht weiter. Die jungen Leute mit deutschen Namen reden ueberhaupt kein Deutsch mehr. Das finde ich bedauerlich.

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