Im San Francisco Rumaeniens

Ein Anruf meines Kunden, eine unbedachte Antwort und schon sass ich zwei Stunden spaeter im ICE gen Westdeutschland. Man wollte mich schneller sehen als gedacht, alle Fluege ausgebucht. Man ist ja ein guter Mensch. Und dumm – vor allem. Erst im Grossraumabteil machte ich mir die Muehe, mein eiligst am Bahnhof ausgedrucktes Ticket zu studieren. Einmal sollte ich umsteigen muessen, hiess es. Ein winziger Zugwechsel kann ja wohl nicht zu viel verlangt sein, mit zarten 45 Minuten Aufenthalt im Hauptbahnhof von Wuppertal!

350 000 Einwohner und die hoechste Niederschlagsmenge aller deutschen Grossstaedte, schoss es mir durch den Kopf. Doppelt so viel Regen, aber nur ein Zehntel der Bevoelkerung Berlins. Nun, im Hauptbahnhof einer Universitaetsstadt, so dachte ich naiv, sollte ich doch auch um 22.30 Uhr eine dreiviertel Stunde Zeit totschlagen koennen, Routine! Als mich der ICE nach Stunden unter den mitleidigen Blicken meiner Mitreisenden auf den Wuppertaler Bahnsteig ausspie, kroch in mir so ein unbestimmtes Gefuehl empor.

War das Westdeutschland oder war ich aus Versehen in Richtung Ost-Grenze gefahren? Der Charme der laengst verstorbenen siebziger Jahre schien den seltsamen Bahnhof nur aeusserst matt zu erhellen. Seit der Wende waren hier wohl keine Investitionen mehr angekommen. Ich schlich an den wenigen anderen Menschen vorbei, vorsichtig ohne sie zu belaestigen, da sie ausgesprochen leise auf irgendetwas Wichtiges zu warten schienen.

Hungrig suchte ich nach Befriedigung meines fallenden Blutzuckerspiegels und fand das weltweit verlockende gelbe M auf rotem Grund, doch zu meiner Verwunderung auch die Eingangstuere verschlossen vor.

Nach 22 Uhr gibt es keine Burger mehr im Metropolenbahnhof. Nicht das ebensolches ein Oswald Spengler-Gefuehl in mir ausloeste, doch auch sonst nicht mal eine zweifelhaft beleumundete Doenerbude. Entgeistert irrte ich durch die Gaenge und hoffte auf dem Fahrplan vielleicht eine unbemerkte kleine Verbindung zu finden, ein Schlupfloch, das mich deutlich schneller von hier wegschaffen koennte. Natuerlich vergeblich. Meine Wartezeit war seit Moses Zeiten in Stein gemeisselt und festgelegt. Also galt es sich diesem Schicksal zu fuegen.

Ein Neonberoehrter Kiosk war immerhin noch geoeffnet und verkaufte mir ein Bier, der stete Trost auch all der blau gekleideten Schichtarbeiter, die sonst noch auf den immerhin acht Bahnsteigen herumlungerten. Ich setzte mich auf eine Bank und starrte sie an, ihre veritablen Kugelbaeuche, die sie vor sich her trugen und ihre nicht nur vom Bluthochdruck glasigen Augen. Eine beginnende Insulinresistenz schien beim Personalchef dieser Mitarbeiter grundlegende Einstellungsbedingung zu sein. Vielleicht so eine Art Rache an dem Land, das diesen Bahnhof so schmaehlich vergessen hat.

Wenigstens die kuenftigen Behandlungskosten fuer die Krankenkassen galt es wohl schoen nach oben zu treiben. Es war eine warme Nacht, ausserhalb des Bahnhofs konnte man einige Blicke auf Stadtfragmente erheischen, auf die steilhuegelige Topografie, die Wuppertal zum >San Francisco< Deutschlands macht. Allerdings erweckten Architektur und Beleuchtung in mir eher Fantasien eines rumaenischen Grenzbahnhofes, irgendwo in der Wallachei.

Die wenigen einfahrenden Zuege drohten schon von weitem mit der Leuchtschrift >Bitte nicht Einsteigen< und das kalte Bier auf nuechternem Magen machte mich langsam kichern. Irgendwann kam Unruhe auf beim spaerlich besetzten Bahnpersonal, ein internationaler Schnellzug sollte tatsaechlich hier halten! Amsterdam-Warschau, mit Anschluessen nach Hamburg, Berlin und Prag! Die Lautsprecher-Durchsagen um dieses Grossereignis ueberschlugen sich nahezu hysterisch vor Aufregung und Stolz. Darueber vergass man vollkommen, die fuer mich wichtige Anschlussverbindung anzukuendigen, sie war weder per Durchsage, noch auf der Anzeigetafel existent. Erst als ich mich zufaellig vom Anblick des Expresszuges umwandte, stand sie direkt vor mir. Die Regionalbahn! Lautlos war sie in den Bahnhof geschlichen, sich ihrer elenden Kleinheit vollkommen bewusst, so wie ihre Passagiere und ich, letztlich gaenzlich unwichtig und provinziell, neben diesem internationalen Schnellzugereignis. Einige Tage nach meinem unwirklichen Intermezzo wurde eine Studie veroeffentlicht, die Wuppertal unter den 30 groessten deutschen Staedten im Vergleich auf dem vorletzten Rang zeigt. Einzig vor Chemnitz! 60000 Einwohner haben diese Stadt in den letzten Jahrzehnten verlassen, den Geister-Bahnhof, so fuerchte ich, werden sie dafuer wohl kaum genutzt haben.

2 Kommentare zu “Im San Francisco Rumaeniens

  1. schön beschrieben – das Theater des Wartens.
    by the way:
    ich war mal in Slobozia, dem Dallas Rumäniens. Da hatte man tatsächlich die Ranch der Ewings nachgebaut, 1:1, so wie man es während des Kommunismus im TV gesehen hatte – “Dallas” war die einzige TV Serie des Westens, die man sehen durfte, zur Abschreckung. Anders als gedacht kam die Serie aber super an bei den Leuten (sie liebten den bösen Kapitalismus a la J.R.) und der Themenpark in Slobozia hingegen ist ohne Besucher…

  2. Ich glaube ja auch, das ich Rumänien in dem Text nicht ganz gerecht werde. Ein Vergleich mit Wuppertal könnte da zu Recht als Affront aufgefasst werden…

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