Im großen Rauschen

Das Radio ist tot. Es lebe das Radio! In Zeiten digitaler Reizüberflutung könnte man meinen, das Aufnehmen von Informationen allein über das Gehör und durch ein separates Empfangsgerät, wäre eine überholte Praxis. Dennoch bietet die Radiolandschaft so viele Stationen wie noch nie. Zeit für einen Streifzug durch die Berliner Radio-Szene.

sssssssssssssssffffffffffffffffffffffff – Auf oder ganz kurz vor 87,5 MHz zu leben muss schön sein. Einzig ein gleichförmiges Rauschen umgibt einen. Erhaben eingelullt ist man in elektro-statischer Leere. Jenseits und diesseits des 87,5 Mhz-Elfenbeinturms herrscht das Elend, wabert das Chaos: Öffnet man ganz oben, unterm Dach, dort, wo die geladene Luft und das prasselnde Rauschen am dünnsten und feinsten sind, das linke Fenster, schallen einem die Wortfetzen des Polizeifunks in die Stube.

Spielt man nun Fährmann Charon und transportiert die kleine rote Skala des analogen Küchenradios ein paar Fingerknicke nach rechts, strandet sie im bunten Jenseits, in der grellen, flippigen, freundlichen und top-aktuellen Radio-Collage dieser Stadt…

Für Auto, Bus und Bahn

Da ist zum Beispiel auf 87,9 StarFM. Weichster, meist zahnloser Rock und watteharter Pop werden unterbrochen von beinahe schnarchenden Moderatoren, vom Wetterbericht und von den alle 15 Minuten erneut runtergebeteten Verkehrs- und Blitzermeldungen „für Auto, Bus und Bahn“.

Bei eben diesen Meldungen, die meistens länger sind als der vorangeklemmte Nachrichten-Block, lassen sich bevorzugt Männer – getauft auf Namen wie Ronny, Mike und Matze – zu „Star-Rangern“ ernennen, quasi eine neuzeitliche Form des Ritterschlags: „Tach’schen, hia is’ da Ronny; ick bin ‘rade uffa Stadtautobahn und wollte’n Blitza melden…!“

Vom ehemals richtig coolen Rock-Sender anno 1998/99 mit erfrischend fremdländischen Jingles, der um 19 Uhr Sendeschluss (!) hatte und dessen Programm morgens um sechs Uhr mit der amerikanischen Nationalhymne (!) wieder aufgenommen wurde, ist nichts mehr geblieben. Stattdessen bestreitet man seit Jahren das Tagewerk mit denselben einhundert MP3-Dateien, die teilweise sogar zu gleichen Uhrzeiten wieder zu hören sind.

Betörende Nachrichtenprinzessin

Weniger Musik, dafür mehr Sprachanteil zeichnet Deutschlandradio Kultur 89,6 aus. Morgens hört man oft einen tantenhaften, weibisch-pikierten Moderator, der kurz vor der Husten-Grenze spricht, oder tantenhafte Moderatorinnen, die goldene Ansteckohrringe unter der Hannelore-Kohl-Frisur tragen. Bei der hin und wieder eingeblendeten Musik des Programms kommt jeder auf seine Kosten, oder eben auch nicht.

Manchmal – oho! – verliest morgens eine blutjunge Prinzessin die Nachrichten, dass es einem die Sinne verschlägt! Hebt sie ihre sanfte Stimme an, bekommt man(n) den Inhalt des Vorgelesenen nicht mehr mit.

Ihr Klang, ihr Sprechtempo, ja ihre Lippenformung sind derart betörend und märchenhaft, dass man auf einem Schimmel zum Sender reiten und die kleine Dame zu sich nach Hause tragen möchte, damit sie einem noch vorliest, notfalls aus dem Telefonbuch. Nie und nirgendwo sonst, aus keinem Munde klingen 27 Tote und elf Verletzte so engelhaft, so un-schlimm, so verführerisch hinnehmbar.

Nah am Herzinfarkt

Geben wir Charon etwas mehr Fährgeld, auf dass er uns noch ein bisschen weiter rudert, in sanfte Gefilde. Wir landen am Äther-Steg vom Berliner Rundfunk 91,4.

In Autowerkstätten und Baustellenwagen, in beinahe sämtlichen Arztpraxen und in wohl bis zu 70 Prozent aller Verwaltungs-, Beamten-, Behörden- und sonstigen Gängelstuben der Stadt dudelt dieser Sender die Lieder, die man kennt.

Egal, wann man geboren ist, man kennt sie. Weichspüler an Softrocker, Oldie an Chartstürmer. Cher, Prince, Smokie. Manchmal rockt man hier versehentlich mehr als auf StarFM, dann muss sich der durchschnittliche Zuhörer fast hinsetzen, um keinen Herzinfarkt zu bekommen. Deutlich durchhörbar ist die Instruktion des Ober-Bosses an seine Moderatoren, bei der Arbeit stets zu lächeln.

Ikea-Musik

Wir kommen zum Lemmy Lässig der Berliner Radiosender, zu radioeins 95,8. Wenn Sie schon zu Beginn gespannt waren, was hier zu radioeins geschrieben wird, dann machen Sie sich doch einmal Gedanken über Mark Twains Ausspruch: „Immer wenn man die Meinung der Mehrheit teilt, ist es Zeit, sich zu besinnen.“ radioeins, das ist ein etwas verjüngter Berliner Rundfunk mit mehr Sprechanteil und kesseren Moderatoren.

Studenten sämtlicher Fachrichtungen und aller Hochschulen, Grafikdesigner sowie junge hippe Prenzl’berger, mit dem iPhone auf dem Puls der Zeit surfend, können sich ebenso mit der netten Radio-Clique anfreunden wie kecke Unternehmensberater oder frisch gebackene Eltern mit Hornbrillen. Ein Sender „für alle, die …, und natürlich nur für —-!“

Dieser Sender passt zu IKEA-Family-Cardbesitzergemeinschaften, neurotischen Psychologen-WGs, global-ökologisch korrekt vegetierenden Vegetariern und den ganz normal wimmelnden Normalos. Zwei Moderatoren-Duos sind die Aushängeschilder; eine knackig wirken wollende 40-jährige Blondine in engen Hosen (?) reibt sich, bei zwei Millimetern Abstand zum Mikrofon, abends oft die Stimmbänder wund; bei Quizsendungen kann man einen Kasten Sprudelwasser gewinnen anstatt wenigstens einen Geldschein.

Mit dem Buddha nach Westen

Dagegen ist 98,2 Radio Paradiso sozusagen das Seelsorge-Radio für all jene, die Kristallsteine auf der Fensterbank von der Morgensonne mit Energie auftanken lassen, oder die keinen Tee trinken können ohne halbstündiges chinesisches Teeritual.

Für Leute, die überteuerte Buddha-Statuen vom Wochenmarkt mitnehmen und ihn in der Doppelhaushälfte mit dem Gesicht nach Westen aufstellen; die zwar Yoga (Sanskrit wörtlich: Unterjochung!) mal ausprobiert, bei der Unterwerfung unter den Meister jedoch arge emanzipationstheoretische Differenzen haben. Die dermaßen überstrapazierte gutgelaunte Entspanntheit des Senders kann eigentlich kein mündiger Bürger ernst nehmen.

Man startete einst als „Christliches Radio“ und Teile dieser frühkindlichen Prägung sind geblieben. Für ein Alleinstellungsmerkmal reicht es trotzdem kaum. Eine gutmeinende Sekretärin sagte 1998 einem schüchternen Schülerpraktikanten eigenmächtig zu, und als dieser kurz darauf seine drei Wochen Probeschnuppern antrat, arbeitete sie schon nicht mehr im Sender, sie „wurde zeitnah gegangen“. So schnell kann es gehen, wenn die selige Harmonie überstrapaziert wird.

Rauschen ohne Alternative

Alle weiteren Sender müssen an dieser Stelle kurz vor der Rausch- und Bedeutungsgrenze stehen. – Große Unterschiede konnten und können nicht ausgemacht werden. Wirkliche Alternativen scheint es leider nicht zu geben, aber wussten wir das nicht schon zu Beginn unserer kleinen Flussfahrt?

Erschöpft rudert Fährmann Charon unsere rote Küchenradioskala zurück auf ihren Ausgangspunkt. Wir schleppen uns, müde, halbtaub und reizüberflutet, in unseren 87,5-MHz-Turm hinauf, schließen die Türe fest zu und lassen es selig rauschen… –ffffffffffffffffffffffffffffssssssssssssssssssss

Anm. d. Red.: Eine ungekürzte Version dieses Textes findet sich auf mario-laatsch.de

5 Kommentare zu “Im großen Rauschen

  1. ich höre am liebsten Radio Eins – das kommt ja auch ganz gut hier weg bei dir! Das mit dem Polizeifunk, klappt das wirklich?

  2. Dadurch, dass die meisten etablierten Sender ein nur mäßiges Bild abgeben (wohlgemerkt gibt es auch dort sehr hörenswerte Ausnahmen), erhalten Internetsender wie ByteFM oder detektor.fm Aufwind, weil sie einfach ein besseres Programm bieten (es rauscht auch weniger :-)).
    Die Radiolandschaft ist fast wie das Wetter: »größtenteils bewölkt, manchmal scheint jedoch die Sonne durch«.

  3. Radio eins weckt mich immer – das finde ich schön. Die plaudern dich immer so nett aus den Federn…

  4. “…dass man auf einem Schimmel zum Sender reiten und die kleine Dame zu sich nach Hause tragen möchte, damit sie einem noch vorliest, notfalls aus dem Telefonbuch. Nie und nirgendwo sonst, aus keinem Munde klingen 27 Tote und elf Verletzte so engelhaft, so un-schlimm, so verführerisch hinnehmbar.”

    Bravo! und nochmal Bravo! :)

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