20 Jahre Hoyerswerda: Rassistische Gewalt im Osten und die Abschaffung der BRD

Die frühen 1990er waren eine aufregende und aufreibende Zeit: Mauerfall und Wiedervereinigung. Kurze Zeit später brannten in Rostock-Lichtenhagen sowie in Hoyerswerda Asylbewerberheime, während Polizisten teilnahmslos zuschauten. Die BRD verabschiedete den “Asylkompromiss” und schaffte damit das individuelle Recht auf Asyl ab. Berliner Gazette-Autor Alexander Karschnia wurde in dieser Zeit politisiert. Heute fragt er: WAS BLEIBT 20 Jahre nach den rassistischen Ausschreitungen? Und was hat das alles mit unserer Gegenwart zu tun?

„Mein Freund ist Offenbacher!“ Frankfurter sind bekannt für ihren Humor, bzw. ihre Witzischkeit. Und für ihre Toleranz. Man toleriert sogar ein zweites Frankfurt – jedoch nicht unkommentiert: „Frankfurt/Oder wie oder was?“ Am Main verlief die Teilung Deutschlands schon immer zwischen Nord und Süd, Hibdebach und Dribdebach. Rückblickend erscheint die Idylle der ‚kleinsten Metropole der Welt’ wie die einer Bundesrepublik in einer Schneekugel.

Die Montagsdemonstranten wollten nicht länger „das“, sondern „ein“ Volk sein

Die Lässigkeit und Entspanntheit der späten Kohl-Jahre, nach denen sich zu letzt Literaten wie Maxim Biller und Rainald Goetz gesehnt haben, hier war sie zu Hause: Die radikale Kritik des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs durch die Frankfurter Schule hatte sich in gehobene Diskursethik gewandelt (Uni-Graffiti: „Laberspaß mit Habermas!“), der militante Flügel der APO in grüne Realos, die Solidarität mit den unterdrückten Völkern in Multikulti. In dieser Stadt war das jedoch weit mehr als ein Begriff, nämlich ein Amt: das Dezernat für multikulturelle Angelegenheiten. Das große rotgrüne Reformprojekt, hier war es zum Greifen nahe – nicht erst 1998, sondern schon 1989.

Doch statt einer Reform des Staatsbürgerrechts vom wilhelminischen ‚Recht des Blutes’ zum liberalen ‚Recht des Ortes’ stand erst einmal etwas anderes an: der Anschluss der DDR im Zeichen jenes Blutsrechts. Im Herbst 1989 triumphierte nicht nur die BRD über die DDR, die Kohl-Regierung über die Bürgerbewegung, sondern das völkische über das demokratische Prinzip in dem Moment, als die Montagsdemonstranten nicht länger „das“, sondern „ein“ Volk sein wollten.

Und wieder mal triumphierte Einheit über Freiheit in Deutschland, sagte der Philosoph Manfred Frank in seiner Rede zur Pogromnacht am 9. November 1992 in der Paulskirche. Als er Goebbels zitierte übers „Volksempfinden“, um davor zu warnen, in der sogenannten „Asyldebatte“ ‚Volkes Stimme’ zu folgen kam es zum Eklat. Mehr als einen, denn der zweite, die Rede von Martin Walser am selben Ort sechs Jahre später, war eine verspätete Replik.

Ignaz Bubis reist als einzige öffentliche Person nach Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen

Beim folgenden Walser-Bubis-Streit kamen nicht nur die Erinnerung an die NS-Zeit zur Sprache, sondern auch an die frühen Neunziger: die Pogromjahre. Bubis war nach den Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu den Orten des Geschehens gefahren. Kein Politiker oder Kirchenvertreter hatte sich dort sehen lassen, sie nannten das ‚Beileidstourismus’.

Fassungslos und unter Tränen bestand er darauf, dass nichts derartige Verbrechen rechtfertige: keine realsozialistischen Plattenbauten, keine fehlenden Jugendclubs, keine Politikverdrossenheit. Damit sprach er als einzige öffentliche Persönlichkeit das aus, was wir als zornige Jugendliche dem Mantra der Medien und Erwachsenen entgegen setzten.

Jahre später quittierte ihm Walser die Rechnung: „Ich sah Ihr empörtes, ergriffenes Gesicht im Fernsehen, begleitet vom Schein der brennenden Häuser, das war sehr heroisch… Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort zurückgebunden an 1933.“ Das wollte natürlich niemand im wiedervereinigten Deutschland, war es doch schwer genug gewesen, die ehemaligen Alliierten und Nachbarn davon zu überzeugen, dass von den „80 Millionen Hooligans“ (Die Goldenen Zitronen) keine Gefahr ausgehen würde für den Weltfrieden: „Das bisschen Totschlag…“

Erinnerungen an 1991: Die LA riots, der Asylkompromiss und die Ost-Tour von West-Linken

Während in Los Angeles nach einem Akt rassistischer Polizeigewalt die Ghettos brannten, brannten in Deutschland Flüchtlingsheime. Im Fernsehen sah man Jugendliche mit Dinosaur Jr. Käppis Steine und Brandsätze nicht auf Cops, sondern von Cops unbehelligt auf Unterkünfte von Asylbewerbern werfen.

Den white riot von The Clash hatte man sich anders vorgestellt: „The kids are not all right!“ Die bürgerlichen Medien machten kaum einen Unterschied zwischen den race riots von L.A. und den racist riots von Rostock-Lichtenhagen, HipHop galt sowieso als gewaltverherrlichend und war also gleich Nazi-Rock. „Haß“ und „Gewalt“ waren die Schlagwörter, auf die eine erschrockene Zivilgesellschaft mit Lichterketten, Rock gegen Rechts-Konzerten und Heute die, morgen du-Kampagnen reagierte.

Doch „die“ waren ja nicht nur Opfer von „Hass“ und „Gewalt“, sondern von medialer Hetze („Asylantenflut“) und staatlichen Zwangsmaßnahmen wie Internierung und Abschiebung, an deren vereinfachter, beschleunigter Durchführbarkeit die Politik gerade mit Hochdruck arbeitete. Das Ergebnis nannte sich Asylkompromiss und bedeutete de facto die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl.

Gegen diese Übel versammelte man sich im Winter 1992 zuerst klandestin in einem Club in St. Pauli, später auf öffentlichen Veranstaltungen und gründete in mehreren westdeutschen Städten ‚Wohlfahrtsausschüsse’. Im Sommer 1993 brach ein Tross von Musikern (Bands wie Die Goldene Zitronen, Blumfeld, u.a.), Linksintellektuellen wie Diedrich Diederichsen, Günther Jacob, Mark Terkessidis u.a., Journalisten und Aktivisten auf zu einer Ost-Tour.

Doch in den Ohren der Ost-Linken hatten deren Verlautbarungen nur den allzu bekannten Besserwessi-Sound, während ihre eignen Erklärungsmuster die damals geläufigen Verharmlosungen reproduzierten. Ost und West kamen nicht zusammen, dafür vollzog sich in Hamburg, Köln und Frankfurt/M. eine Wiedervereinigung eigner Art zwischen subkulturellen und aktivistischen Milieus, die sich im vergangenen Jahrzehnt weit voneinander entfernt hatten.

Die Repolitisierung der Subkultur

So weit der Minimalkonsens, den Popschreiber, Kunstkritiker und Polit-Aktivisten abnickten. Und auch wir, damals selbst noch Kids, nickten mit und blickten ernst, besorgt und erwartungsfroh in die Runde. Besteht doch die List der Geschichte oft darin, dass die Botschaft nicht ihren Überbringern gehorcht und die Empfänger mitunter ganz andere Dinge empfangen als die Sender zu senden glauben.

Genau das, was Diederichsen u.a. bei diesen Gelegenheiten über die (unkontrollierbare) Dynamik der Rock-Musik sagten, galt also auch für ihren eignen Diskurs. Das soll nicht heißen, dass wir sie falsch verstanden hätten, im Gegenteil, wir verstanden sie richtiger… Während die Redner von Ende, Abschied, Schluss sprachen, hörten wir nur Signale von Neuanfang, Beginn, Eröffnung.

Die „Repolitisierung der Subkultur“ klang für uns wie ein Versprechen. Auch wenn das zunächst nur bedeutete, dass in Besetzerschuppen nun zeitgenössischere Musik zu hören war. Schließlich war Günther Jacob noch 1990 mit Dosen beworfen worden, als er zum Abschluss der Nie wieder Deutschland!-Demo in FfM wagte, HipHop aufzulegen statt Hardcore. Mittlerweile wurden auch in humanistischen Gymnasien X-Käppis getragen und Malcolm’s „by any means necessary“ hatte einen ganz konkreten Sinn bekommen.

Man musste gar nicht in den Osten, um sich dem Mob entgegenzustellen, so konnte man im Mai 92 einfach nach Mannheim-Schönau fahren. Die Cops griffen auch dort erst ein, als die Antifa die Szene betrat und prügelte die Menschenkette vorm Flüchtlingsheim auseinander. Ein Freund kehrte mit gebrochenem Arm zurück. So macht man aus Humanisten Staatsfeinde.

Kurz vor dem Abitur fuhren wir nach Bonn und belagerten den Bundestag. Um nicht allzu sehr aufzufallen, musste ich mir in letzter Minute einen schmutzigen alten Kapuzenpulli leihen. Frühmorgens lungerte ich mit einem Haufen anderer Kapuzen unschlüssig an einer U-Bahnstation herum. Ein älterer Herr mit Aktenkoffer fuhr die Rolltreppe hoch, der irgendwie vertraut aussah. „Guten Morgen“ sagte er und eilte davon. Da erst erkannte ich: Hans-Jochen Vogel! Und irgendwie war es, als sei in diesem Moment die alte BRD an mir vorbei gelaufen, um sich endgültig zu verabschieden.

Das “X” ist überall

Das damals allgegenwärtige X (Tag X nannten wir auch den Tag der dritten Lesung des Artikels 16a GG), das nach dem Erfolg des Romans von Douglas Coupland einer ganzen Generation ein branding verpassen sollte, hat sich als Ausstreichung erwiesen, als crossing out: Wer hat uns mit seinen Tricks aus der Gesellschaft rausge-ixt? Wenn es nicht Michael Ende war, wie Tocotronic behaupten, dann Martin Walser.

Wie sich im Zuge der unglückseligen „Debatte“ herausstellte, zielte sein eitles Gerede auf die „junge Generation“, die sich nicht länger für die deutschen Verbrechen zu schämen brauche. Spätestens da war klar, was der Begriff der Generation generiert, bzw. regenerieren soll: die Nation.

Ausgestrichen wurde nicht nur die DDR durch den Anschluss 1990, sondern auch die BRD nach der Abschaffung des Asylrechts 1993. Oder spätestens 1999, nachdem die rotgrüne Bundesregierung nach Berlin um- und in den Krieg gegen X-Jugoslawien gezogen war. Damit wurden beide zentralen Konsequenzen aus der NS-Zeit revidiert: 1. politisch Verfolgte genießen in diesem Land Asyl und 2. von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.

Zwei Schlussstriche: X.

Vergessen scheinen heute die Pogromjahre, die Schlingensief in seinem Film Terror 2000 als Safari dargestellt hat. Seine Verwandlung vom Skandalfilmer in Deutschlands bekanntesten Künstler spiegelt diese Entwicklung anschaulich wieder. Doch da sind mehr als sieben Fehler im Bild, wie er gesagt hätte: Den drei, vier Jahren des gewalttätigen rassistischen Nationalismus zwischen Mauerfall und Abschaffung des Asylrechts stehen die drei, vier Jahre des fröhlich-integrativen Party-Nationalismus gegenüber zwischen WM-Sommermärchen und Wiedervereinigungsfeierei.

Doch der Triumph der Zivilisation über die Barbarei wäre nicht möglich gewesen ohne tätige Mitarbeit der Barbaren. Ohne rassistische Gewalt kein neues Deutschlandgefühl, das sich zu erst in den Lichterketten geregt hat. Und ohne ‚Druck der Straße’ keine Legitimation für die Politik, das Grundgesetz so zu verändern, dass Deutschland heute von „sicheren Drittstaaten“ umzingelt ist und gezielt selektieren kann, wer rein darf und wer zurückgeschickt wird in den Nachbarstaat, den er als letztes durchquert hat. In Frankfurt/M. ist das Offenbach. Wie gesagt: „Mein Freund…“

Anm. d. Red.: Das Foto oben stammt von Ryan Grove. Der Text erschien auch in der Anthologie Kaltland, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch-Verlags.

7 Kommentare zu “20 Jahre Hoyerswerda: Rassistische Gewalt im Osten und die Abschaffung der BRD

  1. Vorneweg: Ich geb gleich noch ein Plus, alles in allem ein guter Text, aber:
    Beim Lesen kam irgendwie ein zwiespältiges Gefühl in mir auf, oder um mich dem Stil anzupassen: ein ambivalentes :-) Doch eins nach dem anderen:
    – Da ja scheinbar die Verleger auch mitlesen, ist der Titel mit Kerenski/Stefanescu abgesprochen? Könnte ich mir bei Karsten Krampitz glatt vorstellen, gute Wahl jedenfalls. Gibt es jetzt bald ein “Tötet den Affen”-Revival?
    – Bevor ich anfange, den Text zu kritisieren, hier noch ein Hinweis auf einen von lantzschi, der mir persönlich um einiges besser gefällt (was den hier nicht schlecht macht), zur gleichen Thematik: http://medienelite.de/2011/09/12/deutschland-verdraengungsland/
    – Was mir im Gegensatz zu dem verlinkten Text bei der Lektüre hier nicht behagt ist, dass ich die Vermischung der persönlichen und ich nenn es mal intellektuellen Ebene an einigen Stellen unpassend bzw. unglaubwürdig finde.
    – Nach diesem Einwand wäre es wohl paradox, dem Autor jetzt die persönliche Frankfurt a. M.-Perspektive vorzuwerfen, ich mach’s aber trotzdem: Kein Wort zur Revolution (doch, da gab’s eine), zu einem utopisch-chaotischen Jahr Demokratie in der DDR, den massiven Kolonialierungsunternehmungen durch sämtliche Westparteien vor der Volkskammerwahl (trotz entsprechendem Beschluss des Runden Tisches) – und dann die Ernüchterung. Die schimmert hier durch, zugegeben.
    “Kein Politiker oder Kirchenvertreter hatte sich dort sehen lassen, sie nannten das ‚Beileidstourismus’.
    Fassungslos und unter Tränen bestand er darauf, dass nichts derartige Verbrechen rechtfertige: keine realsozialistischen Plattenbauten, keine fehlenden Jugendclubs, keine Politikverdrossenheit. Damit sprach er als einzige öffentliche Persönlichkeit das aus, was wir als zornige Jugendliche dem Mantra der Medien und Erwachsenen entgegen setzten.”
    – Wenn das wirklich ein Netz-Text wäre, hätte ich gerne einen Link hinter “sie” gehabt – wer hat sich da entblödet so einen Mist zu erzählen? Ebenso in dem folgenden Teil mit den “bürgerlichen Medien” (hier ist ja wohl hoffentlich nicht Springer gemeint, die waren und sind höchstens kleinbürgerlich, aber eigentlich nicht mal das) – die Gleichsetzung von HipHop und Nazirock war mir bisher auch unbekannt.
    – Aber nochmal zu dem Bubis-Zitat: Genau hier würde die Möglichkeit bestehen, explizit an die Gegenwart anzuknüpfen (was ja versprochen wurde). Fehlende Jugendclubs sind keine Rechfertigung, umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Vorhandene Jugendclubs könnten so etwas verhindern. Die sind dummerweise heute in NPD-Hand. Wilkommen in der neuen Zivilgesellschaft! Da würde sich zum Beispiel ein Link auf diese hervorragende Reportage anbieten: http://www.youtube.com/watch?v=9b9hQBruYjM
    – Die Frustration der Ostlinken könnte unter anderem durch Erschöpfung, Resignation und andere Folgen aus den oben angesprochenen Vorgängen 89/90 erklären, und nicht nur durch “Besserwessi-Sound”.
    Aber gut zu wissen, dass das damals der Minimalkonsens war, den Popschreiber, Kunstkritiker und Polit-Aktivisten abnickten…
    Trotzdem wie gesagt gut im Gegensatz zu dem ganzen Müll, aber ein bisschen spexig schon, vielleicht komm ich ja morgen sogar vorbei. Im Arsch sind wir eh, fragt sich halt nur, in welchem.

  2. Ich habe mich noch nicht sehr intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt, ist auch nicht meine Generation, aber es scheint lesenswert zu sein!

  3. @BoleB: “sie” waren die damalige Regierung – Kohl&Co. lehnten es ab, an die Schauplätze zu fahren, konkret ging es um Mölln oder Solingen. Ansonsten kann ich nur empfehlen, den ganzen Band zu lesen, es sind viele sehr gute Texte zu eben jener chaotisch-anarchischen Übergangsphase drin, ich habe da viel Neues erfahren, bin selbst ja eher der Wessi-Außenseiter in dieser Sammlung. In Berlin gibt es noch paarmal die Gelegenheit: am 22.9. im BAIZ oder am 3.10. im Burger – das Trio ist seit heute auf Tour, die bis nächstes Jahr zum Jahrestag von Rostock-Lichtenhagen andauern soll.

  4. Dein Artikel hat diese Jahre in Frankfurt, mitsamt persoenlichen Erinnerungen, wieder auferstehen lassen, und rekontextualisiert. Schoener Artikel, und im Stil angemessen, finde ich, denn er spiegelt die Hektik wider in der wir uns damals inmitten all dieser sich ueberschlagenden Ereignisse immer wieder umorientiert und (versucht zu) verhalten haben. Die klare Linie in all diesem entsteht erst jetzt vor meinem Auge. Danke, Alex.

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