Hoehlen fuer alle

Eines der ersten Kinoerlebnisse meiner Kindheit war Spielbergs E.T. In einer Szene des Films spielen die Freunde, die den Ausserirdischen wieder zurueck nach Hause bringen wollen, ein Spiel namens >Kerker und Drachen<, das ganz auf Sprache und Visualsierungsleistungen der Gruppe und der einzelnen Spieler basiert. Mir klappte die Kinnlade herunter. Was machten die da bloss? Von Rollenspielen hatte man zu dieser Zeit in unserer kleinen sueddeutschen Stadt ja noch nicht gehoert. Als dann einer der Spieler – wenn ich mich richtig erinnere – angesichts einer schwierigen Situation sagte, er wuerde sich einfach in seiner tragbaren Hoehle verstecken, fiel ich endgueltig vom Kinosessel. Ein Raum im Raum. Was fuer ein Traum.

Eine Oeffnung durch die man aus dem gemeinsamen, mit anderen zu teilenden Raum in einen anderen, ganz eigenen Raum hinuebertreten kann, der irgendwie ausserhalb unserer euklidischen Koordinaten liegt und doch auch darin. Natuerlich war ich wie die meisten meiner Kollegen aus der Grundschule bereits Meister im Hoehlenbauen. Zu Hause, unter meinem Schreibtisch, konstruierte ich heimelige Abschottungen aus Decken, Laken, Kissen, Marmeladenbroten, Hoerspielkassetten und einem kleinen Abspielgeraet. Aber dass man so einen Ort auch mit sich herumtragen konnte, diese ungleich abstraktere Moeglichkeit rueckte mir so richtig erst dieser Film ins Bewusstsein.

Ich war nicht der einzige, bei dem das die richtige Seite angeschlagen hatte. Wir verbrachten viel Zeit in der Hoehle der Fantasie, gruendeten unsere eigene Dungeons and Dragons-Gruppe, lasen Fantasy und Science Fiction, hoerten Jean-Michel Jarre und Bo Hanson. Spaeter landeten wir bei Hardrock und Heavy Metal, dann kamen Punk, Gothic, Industrial und von dort arbeiteten wir uns ueber den Surealismus, Dada und die Futuristen in die Auseinandersetzungen der zeitgenoessischen Kunst vor. Imagination war unser Heilmittel, eine eigene Welt, aber eine, in die man ja andere einladen konnte.

Letzteres wurde gegen Ende der Adoleszenz schwieriger. Ich will das nicht beschoenigen. Rueckblickend stellt sich die Kindheit und Jugend gerne wie ein einziges >Wir< dar. Aber das basiert weniger darauf, dass tatsaechlich immer jemand zum Teilen und Gemeinsam-Erleben da gewesen waere. Es ist auch die Erinnerung an beinahe paranoid zu nennende Zustaende, in denen alles Erleben, auch jene Momente, in denen man sich wie auf einer windigen Ebene freigestellt und mit seinen Problemen allein fuehlte, auf die normierenden Wir-Konstruktionen um einen herum bezogen wurde. Auf keinen Fall wollte man zu weit aus der Klasse, der Fussballmanschaft, der Clique, dem Freudeskreis herausfallen. Aber konfliktfrei Teil-sein, das wollte und konnte man auch nicht.

Ein Loesungsansatz bot die Entdeckung der Improvisationsmusik und einiger Leute die sich in meiner Stadt darum bemuehten. Hier fand ich ein neues Konzept, das Vieles enthielt, was auch heute die Projekte bestimmt, an denen ich mich beteilige: aesthetisches und soziales Experiment als offener Prozess, eine Art andauerndes Gespraech zwischen gleichberechtigten Partnern, also Hierarchien entgegenarbeiten, Mitbestimmung, Aufmerksamkeit, aber auch Konflikt, Reibung, Zufall, Scheitern – und vor allem die grundlegende Gleichstellung aller [hier] klanglichen Moeglichkeiten. Ob Rauschen, Geraeusch oder Ton, ob Dissonanz, Laerm oder Harmonie, ob kaputtes Stottern oder elegante Melodie, alles ist gleichsam Material fuer die kreative Arbeit und nicht systemisch oder ideologisch vorkonfiguriert, bewertet, ausgeschlossen.

Auf dieser Basis, schien mir, kann man neue Hoehlen bauen. Seltsam schoene, paradoxe Hoehlen. Soche, die licht und transparent sind, mit vielen Oeffnungen versehen, in denen man also nicht alleine bleiben muss und die zugleich geheimnsivoll und dunkel genug sind, um Schutz zu suchen, sollte es noetig sein. Hoehlen also, in denen manches moeglich sein koennte, das anderswo [noch] nicht geht.

Plattformen und Raeume mit solchen oder aehnlichen Qualitaeten bereitzustellen, ist seitdem eines der Themen meiner Arbeit. Denn an relativ offenen Raeumen mangelt es eigentlich immer und ueberall, selbst in einer an Nischen so reichen Stadt wie Berlin. Schliesslich muss es ja auch Orte geben, an denen die verschiedenen Nischen und Stroemungen miteinander in Beruehrung kommen koennen.

Bei General Public geht es daher in erster Linie darum, Raum zu teilen. Nicht nur organisieren wir den Projektraum kollektiv, Leitlinie bei der Programmgestaltung ist es, dass moeglichst niemand unsere Raeume alleine bespielt. Wir wollen Begegnungen, Konfrontationen, Gespraeche, Interdisziplinaritaet. Deswegen laden wir meist zwei oder mehrere Kuenstler ein, eine gemeinsame Ausstellung zu entwickeln. Wichtig ist auch, dass wir dann in den Ausstellungen wiederum Dinge mit Kuenstlern, Projekten und Personen veranstalten, die an der Ausstellung selbst nicht beteiligt waren. Das koennen Gespraeche, Fimvorfuehrungen, Konzerte, Performances und einiges mehr sein.

Diese Idee des Teilens und des Etwas-gemeinsam-Entwickelns spiegelt sich in der grundlegenden Struktur, die General Public erst moeglich macht: Der Projektraum befindet sich in einem Atelierhaus, dass von allen Mietern gemeinsam instandgesetzt wurde, und wird von diesen sowie den eigentlichen >Members of General Public< durch Monatsbeitraege finanziert.

Die meisten Kuenstler und Kulturorganisatoren machen Erfahrungen mit Armut, Mangel, Ueberforderung. Jeder kennt Kollegen, die aus diesen Gruenden vielversprechende Projekte aufgegeben oder sich gleich anderswo Arbeit gesucht haben. General Public ist dagegen ein Versuch, den Druck, der aus Geld-, Zeit- und Aufmerksamkeitsoekonomien erwaechst, so gering wie moeglich zu halten. Zum einen durch das Verteilen auf viele Schultern, durch Kooperation und Vernetzung, zum anderen durch eine bestimmte Gelassenheit. Das muss auch sein, denn alle Beteiligten sind neben General Public in eine Vielzahl anderer Projekte involviert.

Freiraum zum Experimentieren gewinnen wir durch den Verzicht auf Oberflaechen. General Public ist roh, weder durchrenoviert, noch anspruchsvoll ausgestattet. Es gibt keine Pressearbeit und es kann passieren, dass eine Monatsprogrammpostkarte ausfallen muss, weil gerade niemand Zeit dafuer hat. Es gibt keinen zwingenden Programmrhythmus. Das Programm entsteht aus Diskussion, Interesse, Bedarf und nicht aus Setzungen der Kunstszene um uns herum. Es kann auch mal nichts stattfinden, der ganze Kulturbetrieb ist ja schon atemlos genug. Niemand muss sich exponieren, der sich nicht berufen fuehlt. Das kollektive Arbeiten ermoeglicht es, spielerischer mit diesen Dingen umzugehen. Wer will, kann unsichtbar bleiben, wer gerade keine Zeit hat, zieht sich eine Weile aus dem Tagesgeschehen zurueck.

Gemeinsames Experimentieren braucht die Bereitschaft, zuzulassen, dass eigene Vorstellungen durch den Einfuss anderer unmoeglich gemacht beziehungsweise verwandelt werden. Das kann frustrierend sein, ist aber auch unendlich bereichernd und voller Ueberraschungen. Persoenliche Massstaebe koennen punktuell allerdings durchaus angesetzt werden. Entscheidend ist eben, dass nicht in allen Dingen Konsens herrschen muss. Den Raum teilen, kann auch heissen, temporaer Felder abzustecken, in denen dann eigene Ideen kompromisslos vorgestellt werden koennen. Sicher ist aber, dass dies nie ohne Feedback bleibt. Konflikte – wie sollte es anders ein – bleiben da nicht aus, aber es geht. Rein auf dem Lustprinzip laesst sich kollektives Arbeiten so oder so nicht organisieren. Wir sind idealistische Realisten oder realistische Idealisten – jeder weiss, dass er, auf das Ganze besehen, seinen Beitrag bringen muss, soll die Grundidee lebendig bleiben.

Natuerlich geht das alles nur mit einem Mindestmass an Gemeinsamkeit. Die Gemeinsamkeit entsteht aus dem Interesse, an den Produktionsebenen kultureller Prozesse teilzuhaben. Experimentiern, Finden, Ausprobieren, Forschen brauchen Dialog, brauchen Austausch, brauchen Naehe, Raum und grundlegende Mittel, die leider allzu oft fehlen. General Public stellt hier im Rahmen seiner Moeglichkeiten einen begrenzten Beitrag. Ob das >cool< oder >uncool<, >hip< oder >hippie< ist, darf sich jeder selbst ueberlegen. Fuer uns steht fest, dass es in Berlin derzeit moeglich ist, einen nicht-kommerziellen Ort zu schaffen, der sowohl professionelle als auch soziale Qualitaeten hat, der aus auf einem lokalen Netzwerk fusst und doch aeusserst international ist – allein das Kernteam des Projektraumes bringt es schliesslich auf fuenf verschiedene Nationalitaeten, und jedes Mitglied bringt ein weitverzweigtes Netzwerk ein.

Durch unser Konzept vermeiden wir den Raubbau an uns selbst. Aber natuerlich basiert auch General Public einzig und allein auf der Bereitschaft zu unbezahlter Arbeit. Das geht, so lange es uns gelingt, den Einsatz niedrig zu halten. Angesichts der rapiden Veraenderungen in dieser Stadt, insbesondere der konsequenten Kommerzialiserung der zentrumsnahen Stadtteile, stellt sich daher unweigerlich die Frage, wie ein solches und aehnliche Projekte auf laengere Zeit gesichert werden koennen.

Von daher glaube ich, dass es wichtig ist, auf die Bedeutung dieser eher kleinteilig angelegten, nicht zwingend ergebnisorientierten kuenstlerischen Grundlagenforschung aufmerksam zu machen. Wir brauchen in Berlin dringend neue Konzepte, um unahbaengiges kuenstlerisches Experimentieren in neuer Weise zu foerdern. Die offizielle Kulturlandschaft Berlins, ihre Verteilungsmodalitaeten und Institutionen haben – sieht man von wenigen positiven Beispielen ab – weitgehend den Anschluss an die freie Szene und die hier entstehende kuenstlerische Produktion verloren. Da ist alles zu statisch und ohne die noetige Durchlaessigkeit, ohne Uebergaenge. Repraesentative Prestigeprojekte stimulieren Tourismus und Wirtschaft, aber nicht die Identifikation der Bewohner [auch der nur zeitweisen] mit ihrer Stadt und nicht kulturellen Diskurs und neue Ideen, die Zukunft gestalten.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass in Berlin die Vorstellung vorherrscht, experimentelle Kunstformen, kulturelle Nischen und Raender sind das Produkt einer vor Eigenduenger strotzenden wilden Wiese. Unkraut vergeht nicht. Wer aufgeben muss, wer schlapp macht oder nicht in voller Bluete vom Markt gepflueckt wird, der wird eben durch Nachkommende ersetzt. Konkurrenz spornt an. Dass diese Wiese ohne Pflege keine endlose Resource ist, dass die freie Berliner Kulturlandschaft nur so reich ist, wie es die besonderen Umstaende der Nachwendezeit ermoeglichten und das sich diese Bedingungen allmaehlich aber sicher aendern, dass wir uns also um die nicht-etablierte Kultur in dieser Stadt in neuer Weise kuemmern muessen, das ist eine Erkenntnis, die sich wohl erst allmaehlich durchsetzen wird.

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