Historikertag in Berlin: Die Grenzen des Gestern

Das Rad der Geschichte dreht sich stetig und gleichmäßig. Nicht so die Disziplin, die sich die Erforschung und Deutung jenes amorphen Begriffs Geschichte zur Aufgabe gemacht hat. Kaum ein anderes Feld birgt soviel Konfliktpotenzial aber auch soviel gesellschaftliche Relevanz wie die Erforschung des Vergangenen. Was die Geschichtswissenschaft im Hier und Jetzt bewegt, brachte der diesjährige 48. Deutsche Historikertag in Berlin zu Tage.

Vom 28. September bis 1. Oktober strömten rund 3000 Historiker, Geschichtslehrer, Journalisten und auch der eine oder andere Politiker in die Berliner Mitte. Unter dem Motto “Über Grenzen” wurden Vorträge gehalten, Diskussionsrunden geführt, sowie ein Kulturprogramm in den Berliner Museen angeboten. Die Grenzen, die überwunden werden sollen, sind vielerlei Gestalt.

Geschichte global?

Es geht unter anderem um Ländergrenzen, das Ausbrechen aus den überschaubaren Kategorien der Nationalgeschichte zugunsten globaler Zusammenhänge. Dies schlägt sich in Themen wie Migration und Menschenrechten aber auch Phänomenen wie Kolonialismus nieder.

Der Trend in der Geschichtswissenschaft, in Richtung Globalgeschichte zu gehen, verwundert kaum, spiegelt er im Prinzip doch die generelle gesellschaftliche Entwicklung hin zur transnationalen Verflechtung wieder.

Eine ebenso wichtige Entwicklung stellt die Interdisziplinarität dar. Die fächergrenzenübergreifende Zusammenarbeit der Geschichtswissenschaft mit anderen Wissenschaftszweigen hat vor allem die Zeitgeschichte beeinflusst. Ökonomie, Rechts-, Sozial- und Politikwissenschaftler, bis hin zu Neurologen setzen mittlerweile gemeinsam mit Historikern die Puzzle-Teile unserer komplexen Welt zusammen.

Geschichte light?

Aber auch die Wissenschaft als solche sieht sich verwischenden Grenzen gegenüber, die sie vielleicht gerne bewahren würde. Die Vermedialisierung der Geschichtswissenschaft ist kaum aufzuhalten. Geschichtsdokumentationen im Fernsehen oder gar Kino-Blockbuster vor historischer Kulisse werden immer beliebter.

Die Auseinandersetzung mit Historie erlebt also eine gesamtgesellschaftliche Aufwertung. Diese Entwicklung verlangt der Wissenschaft jedoch ab, sich zu positionieren, wohlmöglich sich sogar von einer Trivialisierung der Geschichtsdarstellung abzugrenzen.

In diesem Kontext ist ein Forschungszweig entstanden, der im Gegensatz zu den USA, hierzulande noch eher wenig Beachtung findet. Die Public History greift jene Fragen nach der Art und Weise der Geschichtsvermittlung, den Grenzen zwischen der akademischen und der öffentlichen Geschichtswissenschaft, sowie nach ihren neuen Möglichkeiten auf.

Geschichte 2.0?

Während sich die klassische Wissenschaft, inmitten eines Wandels der Geschichtskultur, ihre akademische Identität und vor allem Autorität bewahren möchte, muss sie jedoch auch handwerklich dem allgegenwärtigen Standard genügen und mit der Zeit gehen. Unmengen von Geschichtsportalen und Blogs beweisen, dass die Geschichte längst in der Netzwelt angekommen ist. In ihrer Gestaltung bleiben sie jedoch oft noch in der Form des gedruckten Wortes verhaftet. Web 2.0-Werkzeuge werden bisher nur von wenigen historisch Bloggenden selbstbewusst genutzt.

Wie sich Geschichte im Netz aufbereiten lässt, dem widmete sich die Veranstaltung zur Geschichte Europas Online. Hier diskutierten Portalbetreiber mit Nutzern, Forschern und Lehrenden über die Chancen und Probleme, die das Medium der Geschichtswissenschaft bietet. Am Ende wurde offenbar, dass gerade jüngere oder internetaffinere User sich mehr Web 2.0 Elemente in Geschichtsportalen wünschten.

Wenn sich die Gesellschaft wandelt, dann auch die Geschichtswissenschaft, die sie hervorbringt. Räumliche, fachliche, sowie mediale Grenzen werden, insofern sie nicht längst aufgebrochen sind, in Frage gestellt.

Der Fokus der Geschichtswissenschaft war wohl noch nie so weit und umfassend wie in der heutigen Zeit. Darin einen Nachteil zu sehen und die Grenzanlagen zu befestigen, gar höhere Mauern zu errichten, würde diese altehrwürdige Disziplin wohl aber eher aushungern als sie schützen.

5 Kommentare zu “Historikertag in Berlin: Die Grenzen des Gestern

  1. Guter Punkt: “Wenn sich die Gesellschaft wandelt, dann auch die Geschichtswissenschaft, die sie hervorbringt.”

  2. ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass das Internet eine eigene Zeitrechnung hat: allgemein gilt, dass die Zeit im Internet und die Zeit der unterschiedlichen Prozesse, die die (technologische und gesellschaftliche) Entwicklung des Internet betreffen, um ein vielfaches schneller vergeht, als beispielsweise die Zeit einer Nation im TV-Zeitalter.

    Geschichtsschreibung sollte sich einem solchen Umstand annehmen. Geschichte hat schließlich etwas mit Zeit zu tun, sie wird entlang eben dieser Achse geschrieben.

    Andererseits sollte sich die Geschichtsschreibung dem Internet annehmen und zwar als Gegenwartsphänomen: Je mehr Gegenwartsgeschichte in die Geschichtswissenschaft einfließt, desto besser!

    Natürlich wollen wir nicht eine “Diktatur des Jetzt” aufkommen sehen, natürlich ist der Blick der Geschichtswissenschaft auf das Jetzt, auf die Gegenwart stets ein Blick, der über den Tellerrand des Jetzt zu schauen vermag. Zurück in die Vergangenheit oder in die anderen Gegenwarten, die sonst noch so stattfinden — und sich kulturell, geografisch oder sonstwie abgrenzen lassen.

  3. Gegenwartsgeschichte?
    Ich stimme Deiner aufmunternden Kritik in Teilen durchaus zu.. aber realistisch gesehen: keine Chance.

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