Herbst in Berlin, oder: Kirschen in Kriegsmontur

Anfang September: Die Kastanien in Berlin fangen an zu rosten. Wenn in die Großstadt der Herbst einzieht, wollen es die einen noch gar nicht wahrhaben und die anderen erwarten freudig die kuscheligen Nächte vor der Heizung. Und was tut Berlin sonst noch, wenn die Blätter fallen?

Über Nacht standen alle Kastanien in meiner Straße in einem Braungelb da, begossene Pudel im frühherbstlichen Sprühregen, die Zweige wie vor Selbstekel weggestreckt von Stamm und Ästen: Auch Bäume haben ästhetisches Gespür. Kaum ein grüner Fleck in diesem hässlichen Rostlaub erinnert an die noch vor kurzem tadellose Frische der Bäume, deren Morgensterne in Paaren an den Zweigenden hängen wie kampfbereite, bewaffnete Kirschen in Kriegsmontur.

Während viele Passanten bei den heutigen 14 Grad noch mutig im Polohemd den Sommer nicht loslassen wollen, sehr wohl aber schon verdächtig schniefen und husten, schiebt die Natur, die hier in der Stadt schon immer nur die Statistenrolle übernehmen musste, langsam aber sicher ihre Herbstdekoration in die Kulissen. Und in drei Monaten wird Berlin wieder zum deutschen Moskau geworden sein. Keine Spur von Tucholskys „fünfter Jahreszeit“, in der alles Grüne stillsteht, den Sommer noch zu Ende zelebriert und gleichzeitig dem Herbst schon Avancen macht. Der Kastanienrost versaut die Atmo.

Sommer, der letzte Versuch

Die Luft kann sich trotzdem im Gesicht trügerisch nach Frühling anfühlen. Der September wird für die Romantiker zur melancholischen Inspirationsquelle, für die Einsamen und Depressiven zur laubmatschigen Startlinie eines harten Halbjahres, während glückliche Patchwork-Familien im Geländewagen zum innerstädtischen Drachensteigen fahren. Wenn der Oktober dem Winter die Betten aufgeschüttelt hat, lässt der erkaltete Herr noch lange auf sich warten; erst Ende Dezember, als Vorhut und Scout des Christkinds, steht seine Ankunft bevor.

Der überflüssige Monat November verlängert das Jahr unnötig, weil er sich endlos zieht, Tag um Tag träge abnimmt, gehässig, fies und zu keiner Turbo-Diät bereit. Findet der strenge General Winter im Anschluss zufällig ein paar Drogenreste, wird’s kurz vor der Mitte des letzten Monats noch einmal um die 15 Grad warm.

Dann heißt es wieder allerorten: Sonnenbrillen raus. Gaststättenbetreiber und vor allem Biergartengärtner erleben einen zweiten Frühling, und die Wege des Tiergartens weisen jahreszeitenunüblich viele Sohlenabdrücke auf.

Unter UV-Toastern

Fällt die Skala des Thermometers wieder auf beißende fünf Grad, steigt in den auf Outdooraktivitäten spezialisierten Läden die Nachfrage für Fleecejacken, feste Schuhe und Pudelmützen mit Ohrenklappen. Die fliegenden Händler am Checkpoint Charlie und Berliner Dom frieren am Boden fest, weil trotz der Witterung kaum jemand ihre warmen Kunstfellmützen kauft.

Wenn sich die Sonne dann endgültig verabschiedet und regulär um halb vier das Weite sucht, steigen Woche für Woche die Selbstmordraten wieder an, denn: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr / wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.

Und wem es in seiner dunklen Wohnung zu düster ist, der flüchtet sich immer öfter unter die UV-Toaster der Solarien, wo das ganze Jahr über der wasserstoffblonde Plastiksommer regiert, inklusive aufgeklebter Fingernägel, lang und kantig.

Mein Grau, dein Grau, euer Grau

Die echten Kaltduscher und Frohnaturen hingegen suchen zugefrorene Seen auf, hacken sich Löcher hinein, baden kurz fürs Foto, und kommen ebenso gerötet aus dem Wasser wie die Solariumsbesucherschaft nach “erfolgreicher” Sitzung. Die meisten Motorradfahrer motten ihre Hobel ein. Wirte hängen die dicken Vorhänge in den Eingangsbereich. Jeder neue Gast sorgt dann im Augenblick des Eintretens für ein klitzekleines theatralisches Moment.

Mein Grau, dein Grau, euer Grau: Unsere grauen Stadtfassaden verschwimmen mit dem Grau der Straßenbeläge, der Zungenbeläge, mit dem Null-Bock-Himmel und dem morgendlichen Raureif der Autoscheiben. Der frühe Morgen ist nicht blau, sondern schwarz. Die kahlen Bäume, auch schwarz, frieren sich dumm und dämlich.

Hunde spucken vor dem Gassigehen in die Hände, und Käfigvögel singen keine Freiheitslieder mehr, oder zumindest weniger. Einzig die geselligen Kaninchen in den Parks rücken im warmen Bau gemütlich nah aneinander, schunkeln und singen Lieder bis tief in die Nacht. Vielleicht sollten wir uns an ihnen ein Beispiel nehmen…

2 Kommentare zu “Herbst in Berlin, oder: Kirschen in Kriegsmontur

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