Neustart in Griechenland? Facebook & Co. könnten einen Wandel der Gesellschaft ermöglichen

Sie sind wütend, sie demonstrieren und sie nutzen Facebook: Die “Aganaktismeni” sind so etwas wie die Wutbürger Griechenlands. In einer Gesellschaft, die am Abgrund steht, eröffnet ihre digital verstärkte Oppositionskultur vielversprechende Perspektiven einer neuen Ordnung. Liza Tsaliki, Medienprofessorin an der Universität Athen, geht der Frage nach, ob in Griechenland mit Hilfe von Sozialen Medien wie Facebook nachhaltige Veränderungen eingeleitet werden können.

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Die größte Veränderung der griechischen Medienlandschaft innerhalb der vergangenen fünf Jahre ist die erschreckende Geschwindigkeit, mit der Zeitungen eingestellt werden, Journalisten und Büroangestellte der Verlage ihre Arbeit verlieren. Da einige Verlage bankrott gegangen sind, erhalten die ehemaligen Angestellten auch keine Entschädigungszahlungen; viele Zeitungen konnten ihren Angestellten nicht einmal mehr das Gehalt bezahlen, wodurch diese in finanzielle Notlagen geraten sind.

Auf ähnliche Weise befindet sich die Werbebranche in der Krise. Viele ehemals erfolgreiche Firmen haben sich aufgelöst. Beigetragen zu dieser Situation hat – ein Nebenprodukt der Krise selbst – das komplette Fehlen von staatlichen und öffentlichen Werbemitteln. Früher haben der Staat und etliche Unternehmen des öffentlichen Sektors Werbungen für ihre Jahresbilanzen geschaltet. Das gibt es nicht mehr, damit fällt Zeitungen eine wichtige Einnahmequelle weg.

Auch in der Radio- und Fernsehbranche werden Angestellte entlassen, Gehälter und Verträge gekürzt und Sendungen eingestellt. Beispielsweise ist nicht nur die Zahl der heimisch produzierten Serien im letzten Jahr stark zurückgegangen, es gibt auch eine deutliche Verschiebung von Drama und Comedy hin zu weniger aufwendig produzierten Programmen wie Talentshows und Lifestyle-Sendungen.

Soziale Medien haben währenddessen immer mehr Popularität erlangt. Dabei liegt Facebook an der Spitze: Von den sechs Millionen Internetnutzern in Griechenland haben 3,5 Millionen einen Facebook-Account. Twitter, Instagram und Path werden auch immer beliebter. Viele Journalisten, Moderatoren, Sendungen, Zeitschriften und Zeitungen haben eigene Facebook- oder Twitter-Profile.

Oppositionskultur dank Sozialer Medien

Inwiefern Soziale Medien eine Rolle in der aktuellen Krise spielen, ist eine andere Frage. Mit Krise meine ich übrigens das demokratische Defizit, dass viele Menschen in Griechenland der Regierung und dem politischen System im Umgang mit der ökonomischen Krise zugeschrieben haben, sowie der Spirale der Ereignisse, die zur Krise geführt haben.

Zahlreichen akademischen Stimmen zufolge werden Soziale Medien ausnahmslos zum Anfechten und Verhandeln von sozialen und kulturellen Gesetzen, Identitäten und Beziehungen genutzt.
So bildet sich eine Oppositionskultur zur bestehenden dominanten Ordnung, die öffentlich systemkritische Gedanken darstellt und das Bewusstsein für unterdrückte und marginalisierte Gruppierungen stärkt. Alternative Identitäten und Interessen können ausformuliert werden und in eine laterale Kommunikation gegen die Politik und Machtstrukturen eingebunden werden.

Griechenland hat nun Indignados und Wutbürger hevorgebracht. Sie heißen Aganaktismeni, was soviel bedeutet wie Verärgerte, Wütende und Empörte. Ihre Demonstrationen haben Volksfestcharakter. Um ihre Anliegen öffentlich zu machen, aber auch um sich zu organisieren, haben sie sich den Sozialen Medien zugewendet.

Es liegt in der Natur dieser Technologie, dass Verbindungen sehr schnell hergestellt und weit verbreitet werden können; es ist ein Netzwerk, das in Echtzeit funktioniert. Soziale Medien arbeiteten als kraftvoller Beschleuniger, der die Ereignisse entscheidend unterstützte. Das Potential für die Verstärkung, Koordination und Kooperation unter ihren Nutzern sollte nicht mit so romantischen Vorstellungen erschlagen werden, wie dass Soziale Medien auf magische Weise eine Revolution vorantrieben. Denn um Aufstände und Umbrüche einzuläuten, braucht es zwei Schlüsselfaktoren: Soziale Medien und die Sozialgesellschaft. Das haben die Aufstände während des arabischen Frühlings gezeigt.

Aganaktismeni, Occupy Syntagma-Platz!

Das Phänomen Aganaktismeni hat eine enorme soziale, mediale und akademische Aufmerksamkeit und Zustimmung erfahren. Es hat darüberhinaus aufgezeigt, wie man die Dinge selbst in die Hand nehmen und sie damit zum Besseren verändern kann. Doch haben sie ihr Potential bereits voll ausgeschöpft? Die Aganaktismeni sind keine einheitliche Gruppe, im Gegenteil: Die Menschen, die bei den Massendemonstrationen an der Spitze des Syntagma-Platzes, vor dem Parlament zusammenkamen, waren verschiedenster Herkunft, unterschiedlichen Geschlechts, Alters, politischer Zugehörigkeiten, Berufe und Interessen. Einige waren zum ersten Mal dabei. Sie kamen jeden Nachmittag zusammen, riefen ihre Forderungen und sangen dazu.

Am Fuße des Platzes gab es die stärker politisierten Aganaktismeni, die hitzige Diskussionen über wichtige politische und soziale Probleme führten. Sie besetzten den Platz und lebten für den Großteil von zwei Monaten in Zelten. Sie hatten eine organisierte Arbeitsteilung, vom Presseverantwortlichen bis hin zum Doktor. Es gab eine Kinderecke, ein Wasch-Gruppe, Techniker, Hausmeister und eine Kochmannschaft. Jeden Abend um 21 Uhr wurde eine öffentliche Zusammenkunft abgehalten, bei der jeder ein Problem zur Diskussion stellen konnte. Am Ende des Treffens entschied die Gruppe über das Vorgehen für die kommenden Tage.

Das zentrale Thema dieser Gruppierung ist die Einführung einer direkten Demokratie als alleiniges Mittel zur Überwindung der ökonomischen, sozialen und politischen Krise. Die beiden Enden des Platzes haben selten miteinander gearbeitet. Die politischere Gruppe sieht die Demonstranten vor dem Parlament als Opportunisten und keine wahren Revolutionäre, denn sie waren und sind nur wütend, weil sie ihre Privilegien verloren haben.

In welchem Ausmaß eine direkte Demokratie durchführbar ist, bleibt offen. Es ist eine Sache, mit 1.000 Leuten auf dem Syntagma-Platz eine Versammlung abzuhalten. Bei 10.000 oder 100.000 ist die Situation bereits komplett anders. Wer wird dann gehört? Und wer fällt Entscheidungen? Die Zahl der Protestanten vor dem Parlament nahm im Laufe des Sommers immer weiter ab – man musste schon sehr willensstark sein, um bei brütender Hitze Mitte August zu demonstrieren. Diesen Zustand über eine gewisse Zeit auszuhalten ist deutlich schwieriger, als mit Sozialen Medien Aufmerksamkeit zu erlangen und Menschen “an die Waffen” zu rufen. Zu glauben, dass Soziale Medien selbst uns die Arbeit abnehmen, ist allerdings zu einfach gedacht.

Können Soziale Medien einen Wandel herbeiführen?

Es lohnt sich an dieser Stelle, Asef Bayats Verständnis von “sozialen Nicht-Bewegungen” in Erinnerung zu rufen. Bayat versteht diese Bewegungen als das Produkt gemeinsamer Aktionen einer Großzahl nicht gemeinsam agierender Menschen, deren fragmentierte, aber ähnliche Aktivitäten soziale Veränderungen generieren, obwohl ihre Handlungen kaum durch ideologische oder erkennbare Führung und Organisation hervorgerufen werden.

So zeichnen sich diese Bewegungen einerseits durch simple Praktiken des Alltags aus, andererseits durch die strikte Hierarchie organisierter und geführter Sozialbewegungen samt ihren Ressourcen und einem Repertoire an Aktionen wie Aufmärschen, öffentlichen Treffen, Vereinigungen und Medienstatements. In all dem erkennen wir die Konsolidierung dessen, was Bayat als “Kunst der Präsenz” begreift: Den Mut und die Kreativität, einen gemeinsamen Willen aufrecht zu erhalten und trotz aller Widrigkeiten Widerstände zu umgehen, das Greifbare zu nutzen, neue Räume zu entdecken, innerhalb derer man gehört, gesehen und gefühlt werden kann.

Auf diese Weise kann das normale Volk, das sich aus “untergeordneten Gegenöffentlichkeiten” (Nancy Frasiers berühmter Begriff) zusammensetzt, mit Hilfe von Sozialen Medien die eigene “Politik der Präsenz” darstellen. Tatsächlich ermöglichen diese Medien ein weitreichendes und bisher nicht dagewesenes Repertoire an gemeinsamen Aktionen: von Culture Jamming und Hacktivism bis hin zu Email-Bomben und virtuellen Sitzstreiks. Dennoch müssen wir uns fragen, ob sie nicht überschätzt werden. Können Soziale Medien fühlbaren und nachhaltigen Wandel herbeiführen? Vermutlich ist es noch zu früh, die Langzeiteffekte zu bestimmen…

Anm.d.Red.: Die Verfasserin des Beitrags hält einen Vortrag im Rahmen der transmediale Konferenz in/compatible publics – am Samstag, den 4. Februar um 14 Uhr im Haus der Kulturen der Welt.

6 Kommentare zu “Neustart in Griechenland? Facebook & Co. könnten einen Wandel der Gesellschaft ermöglichen

  1. interessant ist an diesem fall, dass hier eigentlich nur alte formen des sozialen netzwerkens vorgestellt werden, also zumindest keine neuen, aber sie sind offenbar erprobt genug (in anderen ländern) und jetzt verbreiten sie sich in griechenland, also einer gesellschaft, die bislang technologisch nicht auf dem höchsten stand war, aber jetzt sich keine traditionsmedien mehr leisten kann und medienkompetent genug scheint um die “neuen” angebote entsprechend zu nutzen. ein interessanter fall.

  2. “Neustart in Griechendland?”
    Ich glaube nicht. Immerhin handelt es sich in Griechenland ja um eine, wenn auch nicht perfekte, Demokratie. Was nun die richtige Lösung für die derzeitigen Probleme des Landes sind, da streiten sich selbst die Experten.

    Ich bin nicht sicher ob das griechische Equivalent eines Wutbürgers viel besser ist als das deutsche. Aus meiner Sicht eine heterogene Gruppe von Menschen die zu überwiegenden Teilen vor allem gegen die Beschneidung ihrer eigenen Vorteile kämpft, nicht so sehr für die Verbesserung der Gesellschaft.

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