Gravuren des Kapitalismus

Ich bin in einem franziskanischen Gymnasium zur Schule gegangen. Da gab es den Bruder Stanislaus, der Gaertner des Klosters. Ich habe ihn oft beobachtet, wie er mit extremer Langsamkeit die Rosen schnitt. Also er schaute, er schaute lange, er schaute sehr lange, um dann noch langsamer den Arm zu heben, dann den Schnitt setzte und dann wieder schaute. So ging das stundenlang und es schien, als ob er sich kaum von seinem Platz bewegte. Der Mann war damals um die 70 Jahre alt und er konnte nicht mehr mit geradem Kreuz stehen. Also ich meine, er hatte so was wie einen Buckel. Wie er ganz oben an die Straeucher, Rosen etc. kam, ist mir ein Raetsel. Der Garten war aber immer tip top. Irgendwann einmal fragte ich ihn, wie er das mache, dass alles so ueppig gedeihe und spriesse. Er sagte, das liege nicht an ihm, >er da oben< mache das und dann sprach er noch von >Bruder Unkraut<.

Viel spaeter stiess ich auf das Brechtgedicht vom Pflaumenbaum. Eisler hat das uebrigens vertont. Es ist eins dieser zarten Exillieder. Also Brecht beschreibt in diesem Gedicht einen Pflaumenbaum: >Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum, weil er nie eine Pflaume hat…< und weiter: Man muss ein Gitter drum bauen, weil er so klein und ganz ohne Frucht ist, dass ihn keiner umtritt. Und am Schluss des Gedichts fragt der Brecht dann, woran man denn den Pflaumenbaum nun ueberhaupt erkenne: >Man kennt ihn an dem Blatt.< Das ist wunderbar, finde ich, das ist wie mit Herrn Bruder Unkraut, fuer den - wie sich spaeter herausstellte - Stanislaus in seinem Garten eine extra grosse Ecke eingerichtet hatte. Ich meine, man muss sich vorstellen der Brecht schreibt dieses Gedicht im Exil, diese Idee, dass der Mensch unversehrt sei und unversehrt sein moege, wohl wissend, was gerade geschieht... Und da war dann noch das Werk des Religionsphilosophen Martin Buber, insbesondere seine Schrift >Ich und Du<. Buber unterscheidet hier ein >Ich-Es< Verhaeltnis, das man zur Welt und den Dingen einnehmen kann und ein >Ich-Du< Verhaeltnis. >Ich-Es< wird als ein instrumentelles, entfremdetes Verhaeltnis beschrieben, >Ich-Du< als eines der wesenhaften, ganzheitlichen [spirituellen] Begegnung mit dem Menschen, der Natur, dem Tier. Uebrigens verfasste Buber diese Schrift weit vor Adornos Begriff der >instrumentellen Vernunft<, der im Prinzip nichts anderes meint als Bubers >Ich-Es<. Ich war ziemlich begeistert von Bubers Schrift, dass ich sogleich einen Gespraechstermin mit einem Moench ausmachte, der - so wurde mir gesagt - mit dem Werk Bubers vertraut sei. Ich fragte ihn also, wie das nun ganz praktisch ginge mit diesem >Ich-Du<, ich wolle das auch haben, diese wesenhafte Begegnung mit dem Menschen, der Natur, dem Tier. Er sagte: >Das koennen Sie nicht wollen. Das wird Ihnen geschenkt.< Also wie bei John Cage und den Rosen und Straeuchern von Herrn Stanislaus. Die Zeitstruktur des >Empfangens< scheint eine andere zu sein, als die, die uns taeglich drueckt. >Empfangen<, oder, um auf Cage zu verweisen: anwesend sein/intentionslos, meint die Luecke, den Bruch, die Nische, in der >etwas< aufzusteigen vermag, das Unsystematisierte, nicht Katalogisierte, Begriffslose, Nicht-Identische, Orte des Abwesenden, Orte des Schauens, nicht des Sehens, des Horchens, nicht des Hoerens. All das scheint mir etwa Bubers >Ich-Du< zu meinen. Die Zeitidee des Kapitalismus zumindestens ist eine komplett andere: die framegenaue Ausleuchtung noch jedes Zeitpartikels mit Inhalt naemlich. In dem Kunstwerk [Max Bill], das sich die Deutsche Bank vor ihren Hauptsitz in Frankfurt/M. gesetzt hat, wird diese Zeitidee huebsch augenfaellig: eine aus Granit geschliffene, glatt polierte, unendliche Schleife namens Kontinuitaet - freilich, eine solche [Zeit]philosophie verbirgt geschickt die Blutspur, die sie hinter sich herzieht. Ich meine wir Kuenstler sind nicht unschuldig. Fleissig machen wir alles und die Zeit und den Raum voll mit Metaphern und wenn ich mir ueberlege, dass im Internet-Archiv meiner Installation >Sorge und Kapitalismus< [weswegen ich nun ja auch diesen kleinen Text schreibe] nun schon an die 20.000 Zeitgravuren angehaeuft sind....und es werden immer mehr... Wo wir nun auch zum Begriff der >Sorge< kommen. Aus diesem ganzen Religionskontext haben mich drei Begriffe immer sehr interessiert: der Begriff der Liebe, der Demut und der Begriff der Sorge. Der Begriff der Sorge wird in meiner Arbeit >Sorge und Kapitalismus< als Grunddaseinsweise des Menschen verstanden. Das ist sehr schoen in der Cura-Fabel des Hyginus erzaehlt. Insofern konfrontiert >Sorge und Kapitalismus< zwei sehr basale Metaphern: eine denkbare [utopische] Grunddaseinsweise des Menschen, wie sie auch in der Tradition des Humanismus gedacht ist und eine globale und individuell menschliche Beziehungen strukturierende Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsform. Adorno formulierte fuer den Begriff der Liebe einmal folgendes: >Waeren wir in der Lage ueber unseren engsten Familien- und Freundeskreis hinaus zu lieben, muessten wir uns in einem permanenten Zustand der Rebellion befinden.< Moeglicherweise gilt dasselbe fuer den Begriff der Sorge. >Sorge und Kapitalismus< stellt in seiner Realisierungsform permanent die Frage, ob Sorge unterm Kapitalismus moeglich sei. Zumindestens aber ist es der Versuch den Begriff der Sorge in einer Erinnerung, oder >im Gedaechtnis< zu behalten. Das ist das, was mich am Internet interessiert: seine Permanenz in der Zeit, die Dauer, die es ermoeglicht, dieses Tag und Nacht, das stoische, nun ja, da kommen wir wieder zur Religion....wie etwa dieses in allen katholischen Kirchen permanent brennende rote Licht. Tag und Nacht stanzt es Erinnerung an die Toten und an die Lebenden. Die Berliner Gazette fragt nach dem Begriff des Zeitgenoessischen. Darueber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht. Ich habe unlaengst eine Arbeit ueber Robert Schumann gemacht und im Zuge dessen ausgerechnet: Gingen wir von einer gleichbleibenden Wachstumstaetigkeit aller Glieder und Sinne ueber die Generationen hinweg aus, Schumann waere heute ein Riese von circa 10 Metern Groesse. Wuerden wir uns also die >Zeit< im Begriff des Zeitgenoessischen als einen Riesen vorstellen, das faende ich interessant.

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