Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #70

Die Globalisierung ist nicht neu. Wo immer kulturelle Raeume [Stadtstaaten, Staaten, Imperien] expandiert sind, haben sie auf andere kulturelle Raeume uebergegriffen, sich diese einverleibt usw. Das Roemische Reich ist ein Beispiel, auch das chinesische Han-Imperium. Der europaeische Kolonialismus ist ein Globalisierungsprozess. Neu sind das globale Ausmass und die Tatsache, dass die Oekonomisierung alle Lebensbereiche [auch Kunst, Religion] durchdringt. Globalisierung schafft heute neue kulturelle Formen. Auch Religionen sind davon betroffen, sie durchdringen einander.

Auch wenn sich – aus Identitaetsstreben – Religionen und/oder Kulturen voneinander abgrenzen als Kompensation gegen den Globalisierungsdruck, sind diese Abgrenzungen gepraegt durch wechselseitige Abhaengigkeit.

Man uebernimmt Muster des Anderen, gerade indem man sich abgrenzt. Diese Prozesse werden unser Leben veraendern, und das finde ich ausserordentlich interessant. Mangel ist zunaechst ein materielles Phaenomen, das die Menschheitsgeschichte gepraegt hat und praegt. Unsere Wohlstandskulturen des Westens sind die Ausnahme. Mangel ist auch ein geistiges Phaenomen. Der Mensch hat Sehnsucht nach dem, was er nicht hat. Und so ist Mangel der Motor der Phantasie und damit auch der Motor der kulturellen Produktion. Mangel treibt die Dynamik des Lebens an, das ist biologisch ebenso der Fall wie kulturell. Und auch im Bereich des Wissens ist es nicht anders: Je mehr wir wissen, um so mehr werden wir uns des Mangels an Wissen bewusst.

Das heisst: Jede geloeste Frage zieht eine Reihe neuer Fragen nach sich. Mangel wird bewusst durch Vergleich – ich weiss, was mir fehlt im Vergleich mit anderen. Das treibt an zu Kooperation und Konkurrenz. In der heutigen Situation der schnellen globalen Kommunikation [Internet] ist es selbstverstaendlich, dass geographische Grenzen keine Grenzen mehr fuer die Vernetzung der Wissenschaft darstellen. Und doch: Der persoenliche Kontakt ist wichtig. Kreatives geschieht meist nicht in der gezielten Suche nach Fragen und Loesungen derselben, sondern nebenbei, im Raum des Intuitiven. Das bedarf der Kommunikation auch im emotionalen Bereich. Und deshalb ist der persoenliche Austausch wichtig, gerade auch mit Menschen aus Kulturen, die uns sehr fremd sind.

Tibet etwa ist materiell arm, kulturell sehr reich. Das ist faszinierend. Wir entdecken in der Begegnung andere Lebensarten, reiche Formen der Imagination. Wir entdecken wirklich anderes, und das ist bereichernd, faszinierend. Eine Anekdote, die das verdeutlicht, was ich eben gesagt habe: Zu Beginn der 1980er Jahre betrieb ich Feldforschung in Ladakh und Zanskar, das sind Regionen, die religioes-kulturell von Tibet gepraegt sind, politisch aber zu Indien gehoeren, d.h. es ist leicht, dort in Freiheit zu forschen. Ich bereiste zahlreiche Kloester und wohnte mit den Moenchen, um die tibetische Religion zu studieren. Es war die Zeit der Ruestungs- und Nachruestungsdebatten in Europa, erhitzt und in staendigem Schlagabtausch zwischen den politischen Gruppierungen weltweit gefuehrt.

Auch in Indien schlugen diese Debatten hohe politische Wellen. Ich fragte die Moenche, was das groesste Problem der Menschheit sei. Antwort: Die Touristen, die die Heiligkeit der Kloester entweihen. Das ist eine Geschichte, die von Mangel, Naivitaet, Unkenntnis, Neugier und Sorge um Identitaet handelt. Es ist wie im Brennglas die Situation der interkulturellen oder globalisierten Welt.

Interessant ist es, anthropologische Gemeinsamkeiten und kulturelle Spezifika herauszufinden. Beides ist auch in der Begegnung mit Tibet der Fall. Ich habe viel ueber Buddhismus geforscht und geschrieben, eine faszinierende Welt des Geistes, die auch der Lebenspraxis des Menschen grossartige Anregungen zu bieten hat. Tibet ist ein besonderer Fall. Tibet hat ganz eigenartige Formen des Buddhismus ausgebildet, weil der indische und der chinesische Buddhismus, die seit dem 7. und 8. Jh. in Tibet verbreitet wurden, auf eine Kultur trafen, die ganz anders gepraegt war, z.B. sehr starke schamanische Zuege aufwies. Das hat neue, kreative Gestalten von Religion ergeben, die faszinierend sind. Die tibetische Kultur hat tiefe Einsichten in die Funktionen und Moeglichkeiten des Bewusstseins gewonnen und dafuer bildhaften Ausdruck gefunden. In unserer heutigen Welt, dies so stark von der Oekonomie gepraegt ist, uebt das kompensatorisch eine grosse Faszinationskraft aus. Und diese Faszination hat die ganze Welt erfasst, im Uebrigen auch den Islam – in Teheran betreiben einige Universitaeten intensive Buddhismus-Studien.

Der Tibet-Konflikt ist Ausdruck einer Tragik, die in der Menschheitsgeschichte oft sichtbar ist: der [militaerisch] Starke zerstoert den [physisch] Schwachen. Dabei zerstoert der Starke aber unter Umstaenden die Voraussetzungen seiner Staerke. Und das ist das Schicksal vieler Imperien, die an ihren eigenen Widerspruechen, vor allem an dem Konflikt der Spannung zwischen Einheit und Vielheit, zugrunde gegangen sind. China ist eine hoch differenzierte starke Kultur mit einer Dynamik, die gerade neu erwacht. China ist in sich vielgestaltig. Wenn man versucht, den Nachbarn Tibet – und nicht nur diesen Nachbarn – einzuverleiben, ohne die kulturellen Besonderheiten, die Eigenarten der Geschichte, die weit reichende Eigenstaendigkeit ueberhaupt, zu beruecksichtigen, wird die eigene innere Pluralitaet zerstoert, und an der gewaltsamen Unterdrueckung von Vielheit zerbricht jedes System.

Es kommt darauf an, jeweils neu Einheit in der Vielheit zu finden. Jede >Mono<-Struktur entspricht nicht der Dynamik des Lebens. Das trifft auch auf die Kooperationsprozesse der Weltgemeinschaft zu: Gier nach Macht und Kontrolle verhindert ausgeglichene Strukturen der kooperierenden Vielfalt, die Kreativitaet und damit Leben ermoeglichen. Wir muessen also die Gier nach Macht begrenzen. In der Politik nennen wir dies heute das Subsidiaritaetsprinzip. Dies muss verstanden und eingeuebt werden, wenn Gemeinschaft als Partnerschaft nachhaltig sein soll. Tibet koennte in diesem Zusammenhang eine exemplarische Rolle spielen. Warum? Weil sich die Tibeter – zumindest ein Grossteil von ihnen unter Fuehrung des Dalai Lama – zur Gewaltlosigkeit verpflichtet haben. Dies ist der einzige Weg, Konflikte nachhaltig zu loesen, weil Gewalt unausweichlich Gegengewalt provoziert und dadurch langfristige Loesungen unmoeglich werden. Loesung von Konflikten bedeutet: Eine Gewinn-Situation fuer alle Beteiligten zu schaffen. Das ist uebrigens im Nahost-Konflikt nicht anders. Solche Prozesse brauchen Vertrauen, Geduld und Klugheit. Sie brauchen Zeit. Genau diese Faktoren sind zu beruecksichtigen, wenn die Menschheit ihre Probleme loesen will, diese loesen muss, um ueberleben zu koennen. Der Tibet-Konflikt zeigt, wie auch andere Konflikte, die um Selbstbestimmung gefuehrt werden, dass nur Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit Lebensbedingungen schaffen, die oekonomisch, oekologisch und kulturell eine Stabilitaet erzeugen, die Voraussetzung fuer kreative Aufbrueche im weitesten Sinn ist. [Anm.d.Red.: Der Verfasser ist ein deutscher evangelischer Theologe und Zen- und Yoga-Lehrer. Er leitet den Lehrstuhl fuer Religionswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universitaet Muenchen.]

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