Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #55

Kulturelle Geographien reduzieren das >globale Zeitalter< nicht auf eine deskriptive Kategorie >Oekonomischer Internationalisierung<, sondern verstehen Globalisierung als epistemologischen Begriff, der die Sicht frei gibt auf die Kontingenz schon immer kreuzweise verlaufender Wechselbeziehungen zwischen Hier und Dort, zwischen globalen und lokalen Alltagsentwuerfen. Was nun in den Blick geraet, ist die umfassende Neuaushandlung der raeumlichen Bezuege sozialer Beziehungen - von der Ebene einzelner Subjekte bis zur Ebene globaler Politik. Soll es heute zum Nachtisch eine oekologisch zertifizierte Ananas aus Nordghana sein oder doch selbstgepflueckte Erdbeeren vom Bauern um die Ecke?

Diese Frage erhaelt den gleichen Stellenwert wie die weltpolitische Verhandlung von CO2-Emissionsgrenzen. >Kulturell< sind diese Geographien, weil sie sich vor der verunsichernden Einsicht nicht mehr schuetzen koennen, dass die Wirklichkeit nicht unbeeinflusst >da draussen< auf die neutrale wissenschaftliche Beobachtung wartet, sondern grundlegend kulturell geschaffen, symbolisch vermittelt und daher auch veraenderbar ist. Mit Blick auf die geographischen Hintergruende moderner Weltbilder ist dadurch insbesondere die alte Meta-Narrative natuerlicher Raum-Ordnung ins Wanken geraten, die nicht anders konnte oder wollte als Gesellschaft territorial in nationalstaatlichen Grenzen zu denken. Im globalen Massstab wurden die solchermassen konstruierten raeumlichen Unterschiede paradoxerweise in Modernisierungs-, Entwicklungs- und Evolutionstheorien als zeitliches Nacheinander temporalisiert und somit entdifferenziert. Die Andersheit anderer Orte wurde entweder mit temporalen Teleologien >weguniversalisiert< oder in essentialisierender Weise >wegrelativiert<. Kulturelle Geographien hingegen schreiben an einer raeumlichen Geschichte dezentrierter Globalisierung, weil erst in dieser >wirklichen Verraeumlichung< das/der/die Andere zu existieren beginnt. Wir wenden diese Perspektive vor allem auf das Feld der Oekonomie an und dekonstruieren in kompositorischer Absicht die binaere Opposition von wissenschaftlicher Oekonomik und wirklicher Oekonomie. Unter dem Label >kulturelle Geographien der Oekonomie< zeigen wir, wie die Modelle neoklassischer Oekonomik entgegen ihres wissenschaftlichen Selbstverstaendnisses die Welt keineswegs beschreiben und erklaeren, sondern ganz im Gegenteil die Wirklichkeit performativ modellfoermig gestalten. Mit anderen Worten: Die neoliberale Marktwirtschaft ist nichts anderes als das vermutlich groesste globale kulturelle Projekt der Gegenwart. Blickt man auf den globalen Sueden laesst sich in geographischer Feinarbeit rekonstruieren, wie akademische Oekonomen, Unternehmensberater, Weltbankangestellte, Entwicklungsexperten und andere >Modellarbeiter< in gross angelegten Entwicklungsprojekten durch die Einfuehrung von Privateigentum, Rechtssystemen, statistischen Instrumenten zur Messung staatlichen Fortschritts, Mikrokreditprogrammen und zahlreichen anderen Apparaturen nicht nur nationale Oekonomien, sondern auch individualisierte und rational kalkulierende Akteure zu schaffen versuchen, die zur Rahmung und Stabilisierung modellfoermiger Maerkte beitragen sollen. Weil aber eben jene >Vermarktung< der Gesellschaft nie vollstaendig gelingen kann, sondern als Ergebnis der Praxis einer Vielzahl heterogener Akteure letztlich immer prekaer bleiben muss, machen wir uns genau jene Externalitaeten zu Freunden, die von Modellarbeitern als Bedrohung empfunden werden. Wenn die Einfuehrung eines modernen Bodenrechts in Aegypten oder Ghana entgegen den Modellversprechen zu einer raschen Kapitalkonzentration in den Haenden weniger fuehrt, dann laesst sich zeigen, dass es sich dabei keineswegs um die modellexternen Folgen moralischer Verfehlung alter Eliten handelt, sondern um einen integralen Bestandteil der Modellperformance selbst. Wenn sich benachteiligte Gesellschaftsmitglieder gegen die individuelle Bereicherung zur Wehr setzen, dann gilt es, diesen Stimmen Gehoer zu verschaffen und die Verantwortung fuer die faktische Enteignung an die oekonomischen Modellarbeiter zurueckzugeben. >Kritik< funktioniert hier offensichtlich anders als bei herkoemmlichen politisch-oekonomischen Ansaetzen. Diese stellen den kapitalistischen Markt als einen zwar maechtigen, aber grundfalschen und das Bewusstsein vernebelnden Monolith dar, den sie mit ihrer fundamentalen Ablehnung paradoxerweise immer wieder neu bestaetigen. Kulturel-le Geographie der Oekonomie beginnen dagegen mit der empirischen Einsicht, dass allen Vorwuerfen der Realitaetsferne zum Trotz die Modelle der Oekonomik sehr wirkmaechtig sind. Weil dies aber weniger die Abbild- als mehr die Gestaltungsfunktion von Wirklichkeit betrifft, ergibt sich in der globalen Zusammenschau ein buntes Bild vielfaeltiger Reaktionen, Proteste, opportunistischer Assoziationen wie auch gewaltfoermiger Widerstaende mit und gegen die performative Oekonomik. Kulturelle Geographien der Oekonomie wollen den Moeglichkeitsraum fuer alternative Marktformen wie auch Vermarktungswiderstaende erweitern und sammeln jenseits konzeptioneller Territorialisierung eigenstaendige Erzaehlungen von >anderen Orten<, deren Andersheit sie zum Bild einer reichhaltigen, von verschiedenen Narrativen gleichzeitig und gleichberechtigt hervorgebrachten globalen Oekonomie verdichten. In einem aktuellen Forschungsprojekt wenden wir diese Gedanken auf jene Oekonomisch relevanten Grenzziehungen an, deren heimliche Selbstverstaendlichkeit im Zeitalter glo-baler Vernetzung merkwuerdig anmutet. Wir blicken auf globale Muster der Grenzproduktion am Beispiel der Suedgrenzen Europas und der USA und wundern uns ueber die Gleichzeitigkeit von ungehindert mobilem Kapitalfluss und militarisierter Abwehrschlacht gegen mobile Arbeit. Es wird deutlich, wie aus noerdlicher Perspektive die ambivalente Grenzproduktion samt ihrer Verschleierungsstrategien zu einer notwendigen Herstellungsbedingung globaler Maerkte und Handelssysteme wird, die zu einem Bild heterogener Geographien fuehren, die kaum mehr zweidimensional kartierbar sind. Denn Nord-Sued-Grenzen haben sich interessenabhaengig selbst in Bewegung gesetzt: Sie verschieben sich im Falle nicht dokumentierter Arbeitsmigrantinnen und -migranten weit in den Norden auf die Felder kalifornischer oder andalusischer Agro-Betriebe und dehnen sich im Falle agrarwirtschaftlicher Produktstandards weit nach Sueden aus. Die Betrachtung der Oekonomischen Globalisierung als kulturelles Projekt ist fuer uns derzeit eine der vielversprechendsten Perspektiven einer vom Cultural Turn beeinflussten kritischen Geographie. Um es noch einmal zu betonen: Wichtig ist uns, dass >Oekonomisierung< und >Vermarktung< nie vollstaendig gelingen, sondern als Ergebnis der Praxis einer Vielzahl heterogener Akteure letztlich immer prekaer bleiben. Das erlaubt es uns kulturelle Geographien der Oekonomie als kritisches und auch optimistisches Arbeitsprogramm zu fassen. Denn auf diese Weise laesst sich die Dekonstruktion hegemonialer mit der Komposition alternativer Ordnungen verbinden. [Anm.d.Red.: Christian Berndt hat diesen Beitrag gemeinsam mit Marc Boeckler verfasst; Berndt ist Ko-Herausgeber des Buches >Kulturelle Geographien< [transcript, 2007] Boeckler ist Kulturgeograph an der Katholischen Universitaet Eichstaett-Ingolstadt.]

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