Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #52

Die europaeische Expansion in die Suedsee war von Beginn an mit einem geradezu mythischen Begehren verbunden, der Suche nach der terra australis incognita, einem schon in der Antike sagenhaft beschriebenen Suedkontinent. Im zweiten Entdeckungszeitalter ab ca. 1765 haben Expeditionsschiffe unter englischer, franzoesischer oder russischer Flagge die Inseln des Suedpazifik wissenschaftlich erschlossen, vermessen und kartographiert.

In den Berichten ueber all diese Expeditionen kommt neben dem mythischen Begehren die Zweckgebundenheit der Forschung als Teil kolonialer Projekte deutlich zum Ausdruck. Wissenschaftliche Erkundung, wirtschaftliche Nutzung und Besitzanspruch gingen Hand in Hand.

So hat etwa James Cook auf seinen drei Pazifikreisen zwischen 1768 bis 1779 die Cook-Inseln [!], Australien, Hawaii und zahlreiche andere Inseln nicht nur fuer das europaeische Wissen entdeckt, sondern auch fuer die englische Krone in Besitz genommen. Auch wenn sich die aktive Beteiligung Deutscher im 18. und fruehen 19. Jahrhundert auf mitreisende Naturforscher wie Reinhold und Georg Forster oder Adalbert von Chamisso beschraenkte, waren sie doch unweigerlich Mitspieler bei der wissenschaftlichen und zugleich kolonialen Erschliessung des Suedpazifik. Der koloniale und eurozentrische Horizont praegt selbst die anspruchsvolleren und humanistisch orientierten Darstellungen.

Chamisso etwa, Teilnehmer an einer russischen Expedition [1815-18], beschreibt in seiner Reise um die Welt [1836] die Bewohner der mikronesischen Ratak-Inseln als scheu, gastfreundlich und sittlich vorbildlich, ruft also den uralten Topos des edlen Wilden auf. Als er aber Spuren von Kannibalismus entdeckt zu haben glaubt und diesen auf den Mangel von Nahrung zurueckfuehrt, propagiert er die Aussaat von landesfremden Nutzpflanzensamen, was nicht nur eine Landenteignung voraussetzte, sondern auch ein Projekt der agro-biologischen Kolonialisierung darstellt. In der Suedseeliteratur wird der eurozentrische Projektionsraum des Exotismus aufgerufen.

Und zwar nicht nur in der franzoesischen und englischen, sondern auch in der deutschsprachigen Suedseeliteratur. Dieser Projektionsraum erfuellt unterschiedliche Funktionen. Im spaeten 18. Jahrhundert dient der Suedsee-Mythos der Zivilisationskritik, doch sind in den deutschen Texten gesellschaftsutopische Ideen einer auf Gleichheit basierenden Gesellschaftsform im Unterschied etwa zu Frankreich weniger kaempferisch als vielmehr nostalgisch im Sinne einer buergerlichen Idylle gestimmt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts finden sich verschiedenen Facetten, ohne dass sich daraus eine Tendenz ableiten liesse. Chamisso nutzt den Suedsee-Mythos zur populaeren Vermarktung seines Reiseberichts.

In den realitaetsgesaettigten Abenteurromanen von Friedrich Gerstaecker wird der Paradies-Topos desillusioniert und dient der Kritik an Mission und Kolonialismus vor allem franzoesischer Couleur, erreicht aber nicht die Schaerfe und Popularitaet der Suedseeromane Herman Melvilles. Der Reiseschriftsteller Otto Ehlers hingegen verwendet in seinen Memoiren Samoa, Perle der Suedsee [1895] den Exotismus fuer Zwecke der Kolonialpropaganda, die Deutschen sollten in Samoa einen ‘Platz an der Sonne’ erwerben.
Zugleich finden sich in der Suedseeliteratur Beschreibungen eines fruehen Stadiums von Globalisierung, etwa wenn Chamisso bereits 1817 bemerkt, dass sich in Honolulu, Hawaii, unter den Einheimischen auch Amerikaner, Chinesen, Russen, Englaender, Spanier und Franzosen faenden.

Blicken wir auf die heutigen Gesellschaften Ozeaniens, faellt ihre enorme Diversitaet auf, welche die Redeweise von >dem< Suedpazifik als Konstrukt entlarvt. Auch wenn man heute nicht alle Inselstaaten als Teilnehmer der Globalisierung zaehlen kann, manche wie Pitcairn oder Tokelau liegen weiterhin am Rande der Schiffahrtslinien, werden in sie globale Probleme hineingetragen – amerikanische und franzoeische Atomwaffentests auf Bikini und Muroroa oder untergehende Inselatolle als Folge des Klimawandels seien als Stichworte genannt. Zugleich werden in heutigen Reiseberichten und mehr noch in den Reisekatalogen der global agierenden Tourismusindustrie die alten exotistischen Stereotype wiederbelebt, die Vorstellung vom irdischen Paradies, gastfreundlichen Einheimischen und ungezuegelter Sinnlichkeit haben sich als zaehlebiger erwiesen als die in wenigen Dezennien zerstoerte Kulturen der Einheimischen. Bemerkenswert ist, dass in vielen der Inselstaaten in den letzten Jahren eine Wiederaneignung der eigenen Kultur aus zweiter Hand stattfindet, wenn etwa in Fidschi, Hawaii oder Neukaledonien alte Kunsthandwerke und Taenze neu belebt werden. Aus Aufzeichnungen und gesammelten Objekten europaeischer Missionare und Ethnographen wird die Identitaet der lokalen Kulturen rekonsturiert. Werden heute dem zahlenden Touristen angeblich authentische Sitz- und Kriegstaenze, Gesaenge und Fackelkuenste bei Dinner-Shows vorgefuehrt, wird er vielleicht ahnen, dass die vorgefuehrte kulturelle Identitaet ein kompliziertes Produkt aus wechselseitigen interkulturellen Projektionen ist, so merkwuerdig und real wie das Gauguin-Bild auf dem Zuckertuetchen in einem Kaffee in Papeete, Tahiti. [Anm.d.Red.: Die Verfasserin des Beitrags ist Autorin des Buches >Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Suedseeliteratur 1815-1914.<]

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