Geschichten vom Nicht-Lesen und Schmoekern

Alexander Kluge hat die bestimmte Lesart, von der im vorhergehenden Text die Rede war, frueh befeuert, schon 1981 schrieb er gemeinsam mit Oskar Negt ueber das kollaborativ vollendete >Geschichte und Eigensinn<: >Dies Buch hat uns erschoepft. Es ist ein Fragment.

In Einschaetzung des Gegenstands, von dem wir handeln, wollen wir auch nicht anders. Man muss die Luecken mitlesen<. Doch die Poetik des Dazwischen, die Germanist, Filmwissenschaftler und Kunsthistoriker Andreas Sombroek dem Werk nicht von ungefaehr attestiert, laeuft Gefahr, an eben dem abzugleiten, was sie so emphatisch zu umarmen scheint: das polymorphe Subjekt der Informationsgesellschaft. In der Praxis steht es naemlich >zugespitzt gesprochen< vor Regalen mit lauter ungelesenen Buechern. Ungelesen bleiben sie im klassischen Sinne deshalb, weil jenes Subjekt sich die Inhalte fast ausschliesslich nur noch im Modus des Schmoekerns oder, im professionellen Kontext, im Modus des Scannens erschliesst. Buecher werden im zunehmenden Masse nur noch gesehen, aber nicht durchgearbeitet, Zeile fuer Zeile, Wort fuer Wort. Die Anstiftung des Lesers zum Schmoekern zielt eigentlich auf etwas anderes ab, sollen doch Vorstellungspotenziale und Verknuepfungswege freigesetzt werden. Empfehlenswert scheint jener Modus allerdings nur bei der Zweitlektuere. Zuerst gilt es, den Stoff von der ersten Seite bis zur letzten zu durchdringen. Diese Art des Lesens wird einem Material gerecht, das nicht nur hinsichtlich seiner Quellen und Bezugspunkte ausserordentlich heterogen ist, sondern auch hinsichtlich des formalaesthetischen Stils. Bisweilen ist jener so sproede, dass es kaum vorstellbar ist, dass ein surfender Blick auch nur ansatzweise imstande waere, dessen Beschaffenheit zu wuerdigen, geschweige denn die dahinterliegenden Inhalte zu erfassen. Und noch etwas: Wer den Text gegen die landlaeufige Empfehlung von Anfang bis Ende liest, dem erschliesst sich sein Organisations- und Konstruktionsprinzip. Und ist die Offenlegung desselben samt seiner inter-medialen Verstrickung nicht einer der wichtigen Beitraege Kluges im Bereich der Kuenste? So gesehen liefert >Geschichten vom Kino< reichlich Material, das nicht nur gesichtet, sondern auch gelesen werden will, als Text, der zwischen den Medien steht. [Anm. d. Red.: Dieser Text ist der letzte in einer vierteiligen Reihe ueber Kluges >Geschichten vom Kino<.]

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