All that: Das Gesamtkunstwerk Volksbühne

Das Gesamtkunstwerk Volksbühne – was hat es bedeutet und bedeutet es immer noch? Was hat es ausgelöst? Warum wurde es zu einem Identifikationsort für Künstler und Kreative von überall her? Stephanie Carp, Dramaturgin und Intendantin der Ruhrtriennale, unternimmt eine Bestandsaufnahme.

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„What should I see in May at the Volksbühne, before all that comes to an end?“, fragt ein Regisseur aus New York.
Mit „all that“, das zu einem Ende kommt, ist das Gesamtkunstwerk Volksbühne gemeint. Was hat es bedeutet und be- deutet es immer noch? Was hat es ausgelöst? Warum wurde es zu einem Identifikationsort für Künstler und Kreative von überall her? Was ist es, was man noch in New York fürchtet, in Zukunft vermissen zu müssen? Von der Volksbühne haben auch die Theaterschaffenden in Cotonou in Benin gehört, auch wenn sie noch nie in Berlin waren.

Anlässlich der Verleihung des Großen Kunstpreises der Stadt Berlin an Frank Castorf zitiert der Laudator Ulrich Matthes aus dem Brief, in dem Ivan Nagel nach der Wende der Berliner Kulturpolitik Frank Castorf und Bert Neumann als junge avantgardistische Künstler mit DDR-Hintergrund für die Neubesetzung der Volksbühne empfahl. „Bis zum Beginn des dritten Jahres könnte sie entweder berühmt oder tot sein.“

„Wichtig waren mir (…) immer die bestimmten Formen, innerhalb derer man selbst für seine Freiheit verantwortlich sein kann“, sagt in derselben Veranstaltung der Preisträger Frank Castorf. „(…) unsere Arbeit war eine Individualität in Kollektiven. (…) Viele Menschen werden krank in unserer Gesellschaft, weil sie Angst haben, das, (…) was ihre Wahrheit ist, auszusprechen. Diese Angst habe ich nicht und insofern bin ich ein glücklicher Mensch.“ Und rückblickend auf die Zeit seiner Ernennung zum Intendanten: „Ich habe mich ganz egoistisch für die Volksbühne entschieden, weil ich sie retten wollte (…).“

„Es ist Wochenende.“ – „Ich bin aber im Büro mit Carl Hegemann verabredet.“ – „Das kann jeder sagen“, sagt die Pförtnerin und wendet sich ab. – „Aber Sie haben mich doch sicher schon öfter hier gesehen.“ – „Nicht dass ich wüsste. Fremde darf ich nicht reinlassen.“

Nicht jeder darf rein

Auch das ist die Volksbühne; etwas Bedrohliches geht von ihr aus, nicht nur am Bühneneingang. Sie kann abweisen. Das macht sie wiederum auch attraktiv. Da, wo nicht jeder rein darf, will man dazugehören. Abweisend ist von außen ihre wuchtige Architektur, die Bert Neumann mit einem Panzerkreuzer verglich.

OST steht auf dem Dach. Da war man als Westler Anfang der neunziger Jahre erst mal erschrocken. Darf ich da rein? Trot- zig verweigerte die Volksbühne das Vereinigungsgedudel, um aus der Ostperspektive der Wende gegen den Kolonialismus der BRD, aber auch gegen ostalgisches Ressentiment mit dem scharfen Blick der Vatermörder eine ganz andere Gegenwärtigkeit zu entwerfen, die für Ostler wie Westler ungemein attraktiv war. Das Improvisierte, kurzlebig Widersprüchliche, Überlebenskünstlerhafte, hochstaplerisch Polemische, Anarchische, das die Volksbühne aus der Abschaffung eines Staatswesens und Landes gewann, wurde eine rauschhafte Lebensform, die sich in allem ausdrückte, bis hin zu Mode und Design.

Als dann das Mitte- und Prenzlauer-Berg-Berlin arrivierte, fest im Griff von Investoren, ausgestattet mit neoliberaler Ideologie und neuem Biedermeier, wurde sie etwas einsamer – eine Insel im Widerspruchsrausch. Der Kultstatus blieb und hatte sich inzwischen globalisiert.

Was es vorher nicht gab

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, gegründet 1914 als Amüsiertheater zwischen dem jüdischen Scheunenviertel, dem Alexanderplatz und dem proletarisch-kleinbürgerlichen Prenzlauer Berg, war in der DDR ein Ort des Experimentellen. Die „Macbeth“-Inszenierung von Heiner Müller und Ginka Tscholakowa oder Frank Castorfs Version von „Das trunkene Schiff“ konnte man in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sehen, und wenn man Westberliner war, holte man sich, um das zu sehen, ein Visum und fuhr in den anderen Teil der Stadt. Die Spektakel, bei denen mehrere Tage lang das ganze Haus bespielt wurde, hatte Benno Besson erfunden.

In den Archiven der Volksbühne, die viele Schätze bergen, gibt es Filmdokumentationen aus der Benno-Besson-Zeit, von Inszenierungen und all den anderen Aktivitäten der offenbar damals schon als Treffpunkt junger Kreativer fungierenden Volksbühne. Man sieht Benno Besson bei öffentlichen Proben, den jungen Dimiter Gotscheff in einer Diskussion mit Studenten und viel Erregung.

Einiges vom Geist der Benno-Besson-Zeit haben die neuen Gründer der Volksbühne übernommen. Die das Haus und das Publikum überfordernde Strategie der endlosen Multibespielung der Volksbühne sowie ein paar Jahre später des Praters gehörten zur ästhetisch-politischen Kernausrüstung: die Überforderung, die Sinnlichkeit, die Polemik.

Die berühmten mehrtätigen Praterspektakel mit x Inszenierungen, Installationen, Konzerten, die langen Nächte mit den 20-Stunden-Spektakeln wie die Nibelungen-Nacht, die Themenwochenenden, die politischen Diskurse und Konzerte im Roten Salon, die Bespielung von Foyers und Nebenräumen, die Öffnung des Schauspiels zu Tanz, Musiktheater, Popkon- zerten, Lectures, Filmen, Bildender Kunst, Performances, nicht nur in Nebenräumen, sondern auf der großen Bühne, die signalhaften Sätze auf dem Dach des Gebäudes, die immer noch unvergleichliche subversive grassroot-Werbung mit alten Schriften und neuen Worten, die sich über Nacht wie ein Virus in der Stadt verbreitete.

All das war 1992 neu, gab es vorher nicht, und wurde nach kurzer Atempause von allen anderen unendlich kopiert. Da aber alles, was an der Volksbühne stattfand, von der gleichen polemischen Reibung an der politischen Gegenwart durchpulst war, blieb ihr Aus- druck und ihre Kommunikation lange Zeit unique.

Heute steht das OST nicht mehr oder nicht mehr nur für einen geografischen und ideologischen Osten, sondern für alle, die im neuen Berlin-Mitte nicht einverstanden sind, nicht mitmachen, nicht vorkommen dürfen oder wollen: für Außenseiter, Exzentriker, Nonkonformisten, Ausgeschlosse- ne, Beleidigte und Rebellen. Das OST ist immer noch ein Dis- tinktionsmerkmal, das Zeichen für das nicht Vereinnahmte, das Andere.

Konsequent Nicht-Bürgerlich

Es muss sich immer wieder neu beweisen. Dieses konsequent Nicht-Bürgerliche und Nicht-Repräsentative dieses Theaters wird bis heute von einigen verehrt, von anderen gehasst. In den neunziger Jahren gab die Volksbühne der neuen Ost-West-Bohème den Puls und einen Ort. Ihre Künstler prägten eine respektlose Underground-Ästhetik aus politischer Retro-Zukunft, Understatement und Größenwahn, die bis heute als Mode durch die Stadt läuft.

Sie war der Versammlungsort für alle, die sich auf subversive Weise mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen wollten. Sie wollte als Theater ein Ort sein, der dem scheinbar gedemütigten Osten seine Identität zurückgab, der an den Erfahrungen arbeitete, die jetzt gemacht wurden, und der vor nichts Respekt hatte, der sagte: Seid nicht so blöd demütig, jammert nicht, seid vital; wir sind die Besseren, von uns kommt das Neue. Und es stimmte: Frank Castorf und Bert Neumann waren in den letzten Jahren der DDR die Ostavantgarde und sie machten weiter. Das künstlerisch Neue kam von ihnen, vom Osten. Die Westkünstler und -orte waren über Nacht alt geworden.

Die Volksbühne war der sinnlich-lebendige Ort des Austauschs der neuen Erfahrungen und der künstlerischen Inno- vation. Die Inszenierungen, die in ihr entstanden, und das Rad mit den laufenden Beinen, das 1992 in die frisch verei- nigte Stadt wie eine Virenattacke eindrang, wurden interna- tional berühmt.

Die Aufführungen dauerten viele Stunden. Man ging hinaus und hinein, mit oder ohne Bierflasche. In den ersten, schönsten Jahren kostete der Eintritt fünf Mark, die Obdachlosen durften in den Foyers übernachten und gründeten in der Volksbühne eine eigene Theatergruppe. Auf der Bühne wurde die ganze Nacht lang ein mehrteiliges Stück gespielt und am Morgen gemeinsam gefrühstückt.

Immer noch nicht einverstanden

Das Haus war, anders als die Westberliner Schaubühne der siebziger und achtziger Jahre, nie ein Kunsttempel. Die Attitüde der Volksbühne ist rau statt verfeinert. Sie hat ihren eigenen elitären Gestus, ihre eigene Dekadenz, die Anarchie und Diktatur gleichzeitig sein kann. Das junge Leben der neunziger Jahre hat sich an ihr polarisiert. Was konnte sie ab Mitte der Nullerjahre werden, im immer arrivierteren Berlin-Mitte, selbst nicht mehr jung und arriviert, auch wenn sie das mit allen zur Verfügung stehenden Zeichen abstritt?

Da stand sie als hochmütige Fassade ihrer Vergangenheit immer noch trotzig in der Rosa-Luxemburg-Platz-Wüste vor dem vertrockneten Rasen und sagte, was sie alles nicht will. Sie sagte, wir sind asozial, wir sind Verbrecher, wir sind korrupter als alle, wir sind Verräter, wir sind einsam und besonders. Umgeben von Fashion Shops und Bars für Sauftourismus, nahm sie nicht teil am Teilnehmen und ging Mitte der Nullerjahre lieber noch weiter weg von der Party des Einverstandenseins, die damals so aggressiv gefeiert wurde. Die Isolationskrise und auch künstlerische Krise, in die sie das pure Verweigern damals brachte, hat sie dann ganz gut überlebt und mit den Immer-noch-nicht-Einverstandenen in neuen, nicht konsensfähigen Zonen weitergemacht.

Ein Ort des entschieden Anderen ist sie bis heute geblieben. Als Stadttheater hat sie über 25 Jahre lang ästhetisch und sozial Stadttheater verweigert und damit die größten Erfolge gehabt. Die Inszenierungen von Frank Castorf, Christoph Schlingensief, René Pollesch, Christoph Marthaler und in den letzten Jahren Herbert Fritsch an der Volksbühne haben das Theater als Kunstform verändert, den Spielstil, die Dramaturgie, das Verhältnis zum Text, die theatrale Energie und das Interesse. Da wurden und werden bis heute künstlerisch Türen in neue Räume geöffnet. Die Arbeiten von Frank Castorf haben Ende der neunziger Jahre den langweiligen Streit um das sogenannte Regietheater ausgelöst, der in der Konsenskultur im Sinne von „Kunst raus aus dem Stadttheater“ entschieden wurde.

Von innen heraus

Im Verhältnis zur Volksbühne spiegelt sich die kurze Geschichte des neuen Berlins. Dass sie so beharrlich blieb, so unverführbar eigensinnig sich abgrenzte gegen zu guten Geschmack und Design, gegen zu konsensfähige Urteile, hat sie auch krisenanfällig und verletzbar gemacht.

Die Erfindungen der Volksbühne, von den Inszenierungen über das Flugblatt bis zu den Eintrittspreisen und Umgangsformen, kamen wie der Spielstil der Spieler von innen heraus: von ihren prägenden Künstlern, im wesentlichen Frank Castorf und Bert Neumann, plus den Dramaturgen Matthias Lilienthal und Carl Hegemann, plus Jürgen Kuttner, und auf einer anderen Ebene von den Spielern: Henry Hübchen, Sophie Rois, Kathrin Angerer, Silvia Rieger, Herbert Fritsch, Milan Peschel, Martin Wuttke, Bernhard Schütz.

In der Zeit der neoliberalen Übernahme, in der Theater begannen, sich als Firmen zu verstehen, die sich von Grafikbüros eine Identität erfinden ließen, genannt Corporate Identity, und outsourcten, was man nur outsourcen konnte, hat sich die Volksbühne als Künstlertheater erfunden und behauptet.

Deshalb wahrscheinlich war die Volksbühne ästhetisch wie politisch die Avantgarde der Theater: Sie erfand die Formate, wir machten sie nach. Deshalb wahrscheinlich ist sie das bisher einzige Stadttheater, das es geschafft hat, kein Stadttheater zu sein, weder in der Kunst noch in den Umgangsformen. Man geht in der Volksbühne nie in eine Institution oder eine Bildungsanstalt, sondern in einen überraschenden künstlerischen Zusammenhang.

Authentizität und Anarchie

Authentizität und Anarchie lassen die Institution vergessen. Die Volksbühne hat Repräsentationstheater immer verweigert, lange bevor die Repräsentation zum Diskursgegenstand wurde. Sie hat das Kulturbetriebhafte verweigert: keine Abonnenten, kein Abonnementbüro, low service und keine Pädagogik: keine Stückeinführungen, keine Saisonvorschau, dafür Texte von Carl Hegemann, Boris Groys, Eduard Limonow, die inhaltlich weite und inkorrekte Bögen weg vom Erwartbaren schlugen, gedruckt auf Leporello-Rückseiten oder in kleinen Büchern, gestaltet in der realitätsneugierigen Ästhetik von Bert Neumann, die genauso Kult sind wie das Rad auf den T-Shirts und Streichholzschachteln.

In den ersten Jahren waren alle Räume des Gebäudes für jedermann geöffnet, als gehörte die Volksbühne allen, die sie besuchten. Im Roten Salon war neben und nach den Vorstellungen auf der Bühne beständig Programm, Konzerte, Lectures und Tangonächte, und die Besucher konnten zwischen den Orten floaten.

Die Foyers wurden nicht zugesperrt. Man blieb nach einer Vorstellung da, denn die Volksbühne war eine gute location. Dass die Volksbühne ihre Foyers und Büroräume den Obdachlosen zum Übernachten anbot, war eine Ansage, die kein anderes Stadttheater sich damals zu kopieren traute. Wenn man als Kollege die Volksbühne besuchte, konnte man nach Rückkehr an den eigenen Theaterarbeitsplatz dort alles nur spießig finden.

Natürlich zog irgendwann doch etwas Bürokratie und Kommerz ein, was man einem Kultort übel nimmt, mehr als jedem anderen Ort. Das Gleiche gilt, und das ist schwerwiegender, für künstlerische Krisen und Suchprozesse. Wenn Innovation und Relevanz künstlerisch einmal nicht eingelöst werden können, bricht sofort eine Identitätskrise aus, weil das gesamte Selbstverständnis, an seinem eigenen Maß gemessen, plötzlich hohl erscheint.

Inszenierter Widerspruch

Der Anspruch der Volksbühne war und ist, dass sie ihren Widerspruch produziert wie die Inszenierungen von Frank Castorf, die einem nie eine Gewissheit geben, sondern in Unlösbares führen. Die Künstler, die an der Volksbühne arbeiten, müssen den Anspruch erfüllen, so wenig wie möglich Theaterregisseure zu sein, aber so theatralisch wie möglich eine kilometergroße Bühne zu bespielen. Sie sollen ganz neue Wege gehen – durch das Haus wie Christoph Marthalers „Straße der Besten“ oder in den öffentlichen Raum wie Christoph Schlingensiefs Aktion „Tötet Helmut Kohl“.

Den Anspruch auf das Originale hat die Volksbühne kompromisslos mehr oder weniger bis heute durchgehalten. Auf diesem nicht einfachen Weg hat sie in den letzten 25 Jahren einige prägende Regisseure und neue Formate hervorgebracht: Christoph Marthalers erste Inszenierung außerhalb der Schweiz, das legendäre „Murx“; das Sprechdenktheater von René Pollesch; den Künstler Christoph Schlingensief, der bis heute nicht ersetzbar oder kopierbar ist und der das Theater der politischen Intervention, der Realitätsuminszenierung, der erfundenen Dokumentation in Site-specific- und partizipativen Formen schon in den neunziger Jahren erfunden hat; die norwegischen Extremkünstler Vegard Vinge und Ida Müller; den jungen Regisseur eines neuen Musiktheaters David Marton; und, aus dem eigenen Ensemble, den besessenen Spieler Herbert Fritsch.

Dazu haben sich Frank Castorf und Bert Neumann noch ein paar Mal selbst neu erfunden, am wirksamsten mit dem Spiel in geschlossenen Kästen und dem speziellen Theatereinsatz von Video. Das Ensemble der Volksbühne hat einen unvergleichbaren, angriffslustigen, die Physis überfordernden, virtuosen und performativen Nicht-Theater-Spielstil erfunden.

Das Bert-Neumann-Universum

Nicht nur die Ästhetik auf der Bühne, sondern des Gesamtraums Volksbühne, einschließlich der immer wechselnden Pratergesamtgestaltungen, wie auch die Grafik aller Printprodukte gehören dem Bert-Neumann-Universum an, das billig und glamourös mit postsowjetischen, futuristischen und popkulturellen Zitaten eine neue Gegenwart entwirft, eine aufregend gegenwärtige Gegenwart, nie nostalgisch, aber immer historisch bewusst. Dass die Volksbühne ein international berühmtes Gesamtkunstwerk wurde, hat viel mit der visuellen Prägung durch Bert Neumann zu tun.
Indem man zu definieren und zu beschreiben versucht, was mit „all that“ gemeint ist, entsteht die Frage, warum gerade ein so künstlerischer Zusammenhang krisenanfällig ist.

Die Volksbühne ist im Unterschied zu den meisten, vielleicht allen anderen Theatern, ein Künstlertheater. Sie wurde und wird von Künstlern erfunden und gemacht, die sie nicht als Betrieb oder Firma leiten, sondern als Gesamtkunstwerk verstehen. Das hat sie einzigartig, aber verletzbar gemacht. Das Zentrum der Volksbühne ist die persönliche Aura: Frank Castorf. Sobald sie Schwäche zeigt, kreisen nicht nur die in der Volksbühne Tätigen, auch Kritiker und Politiker verstört um das abwesende Zentrum.

Die Theaterbetriebe, die sich in den vielen Jahren der Castorf-Volksbühne weiter entwickelten, können, was die Volksbühne tut, ohne Weiteres gut organisiert kopieren; und weil es den historischen Augenblick und die historische Aura der Entstehung höchstens noch als Erinnerung gibt, lassen sich alle künstlerischen Spezifika in andere Zusammenhänge gut integrieren.

So wird die Volksbühne im veränderten Berlin von allen Themen und Formaten, die sie selbst erfunden und ausgelöst hat, eingeholt. Ein starker Mythos wird, wenn er lange anhält, vielleicht zu seinem eigenen Zerstörer. Ihre Kopien werden ihr als Defizite vorgehalten. Weil die Geschichte paradox ist und weil Theatermenschen ein schwaches Gedächtnis haben, wird das, was die Volksbühne einmal erfunden hat, zum Hebel, der sie wegstößt.

Anm. d. Red.: Der Text ist in gedruckter Form im lesenswerten “Arbeitsbuch Castorf” von Theater der Zeit (TdZ) verfügbar. Ebenfalls im TdZ-Verlag erschienen: “Imitation of Life”, ein Buch über die Bühnenbilder von Bert Neumann. Weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Wem gehört die Bühne des Volkes? Das Aufmacherfoto stammt von Krystian Woznicki und steht unter der Creative Commons Lizenz cc by 2.0.

Ein Kommentar zu “All that: Das Gesamtkunstwerk Volksbühne

  1. “Sie wurde und wird von Künstlern erfunden und gemacht, die sie …als Gesamtkunstwerk verstehen. Das hat sie einzigartig, aber verletzbar gemacht. Das Zentrum der Volksbühne ist die persönliche Aura: Frank Castorf.”

    Ein charismatischer Kult. Solange in der Volksbühne noch Licht brennt durchaus harmlos. Aber ist es nicht gefahrvoll, sich so ganz im Reinen zu wähnen?

    Welche Verletzungen, welche Opfer, welche abgeschnittenen Pfade gibt es?

    Zuletzt, was hindert überhaupt eine Bühne einer Hauptstadt einen eigenen, einzigartigen Kurs zu fahren? Was ist mit jenen Häusern, welche die Macht dazu haben und sie nicht nutzen. Wenn Bühne auch Reproduktion ihrer selbst ist, dann ist auch die Volksbühne in ihrem eigenen “Semper Talis” längst angekommen. Unter den Bühnen dieser Republik ist die Volksbühne privilegiert. Sie darf und muss deshalb mehr wagen.

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