Modell Autodidakt: Lernen, in Eigenregie zu lernen

Foto von ApanYTK (by-nc-sa)
Muss man es wirklich lernen, autodidaktisch, also in Eigenregie zu lernen? Besonders die Schlauen, Talentierten und Besserwisser stehen sich selbst im Weg, wenn es darum geht, den ersten Schritt in diese Richtung zu machen: nämlich sich einzugestehen, dass man nichts weiß. In dieser autobiografischen Skizze erklärt uns der renommierte US-Schriftsteller George Blecher wie er das Problem überwand. Und was Squash sowie ein junges Mädchen damit zu tun hatten.

Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich gelernt habe zu lernen. Davor habe ich nur Scheiße gelabert. Ich übertreibe. Aber wie jeder intelligente Schüler habe ich viel Zeit damit verbracht, den Leuten etwas vorzuspielen, tat so als wüsste ich genauestens über Dinge Bescheid, von denen ich in Wahrheit nur eine vage Ahnung hatte und die ich mit meinem riesigen Schatz an Wortphrasen ausgeschmückt beschrieb. Warum müssen intelligente Schüler Wissen vortäuschen? Ich glaube, wenn man als heller Kopf angesehen wird, ist man in einer Tautologie gefangen: von intelligenten Schülern wird erwartet, dass sie Dinge wissen, wenn sie also etwas nicht wissen, können sie nicht intelligent sein.

Echtes und vorgetäuschtes Wissen

Auf jeden Fall habe ich mein Wissen glänzend vorgetäuscht. Ich war so gut, dass selbst meine Lehrer Angst hatten mir zu widersprechen. Ich war so gut, dass ich mich selbst davon überzeugt hatte, dass ich nichts vortäuschte. In den dunklen Ecken des hellen Schülerkopfes sind die Grenzen zwischen echtem und vorgetäuschtem Wissen verschwommen, und der Schüler gibt sich mit dem Vortäuschen so viel Mühe, dass er gar nicht mitbekommt, wenn er wirklich etwas weiß.

Mehr als alles andere hat er Angst davor aufzufliegen – dass eine ehrliche Seele seine falschen Schlussfolgerungen und sein oberflächliches Verständnis eines Gegenstandes ernst nimmt, um daraufhin seine Fehler zu entlarven und ihn als den Schwindler hinzustellen. Also lebt er in ständiger Angst: der Angst vor dem Ertappt-werden, der Angst etwas nicht zu wissen, der Angst ängstlich zu wirken.

Kein Wunder, dass Platon in „Der Staat“ davor warnt, späteren Amtsträgern Athens die Dialektik vor dem 30igsten Lebensjahr beizubringen: er wusste, dass sie sie nicht bei der Suche nach „Wahrheit“ einsetzen würden, sondern als Waffe, um intelligenter als ihre Freunde zu wirken.

Manchmal passiert das Schlimmste: Der intelligente Schüler wird mit heruntergelassenen intellektuellen Hosen erwischt. Ich erinnere mich an eine Prüfung, als ich 12 Jahre alt war, durch die ich mit großer Arroganz gerast bin, bis ich feststellte, dass ich einen ganzen Aufgabenteil komplett ausgelassen hatte. Ich habe getan, was ein heller Kopf normalerweise tut: Ich habe dem Lehrer die Schuld gegeben und darauf bestanden, dass die Frage missverständlich gewesen war und dass ich eine weitere halbe Stunde Zeit bekommen müsste, um den ausgelassenen Teil nachzuholen. (Zweifellos war die Frage nicht das Problem. Mein Lehrer gab nur nach, weil er wusste, was für eine Nervensäge intelligente Schüler sein können.)

Plötzlich kommt das Leben

Und dann als ich meinen frühen 30ern war, gab es keine Lehrer oder Eltern, die es zu beeindrucken galt, keine Prüfungen mehr zu bestehen: nur das tägliche Leben. Ich hatte einen langjährigen Freund, der mich immer wieder beim Squash schlug. Abseits des Spielfeldes war er die Vornehmheit in Person. Wir hatten nachdenkliche, spannende Unterhaltungen über Politik und Literatur. Frauen gegenüber war er freundlich und zuvorkommend, seine Stimme war tief, ruhig und so stimmhaft wie ein Cello. Aber beim Squash war er ein Monster, ein Berserker, ein Massenmörder.

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Squash ist ein höfliches Spiel. Das Feld ist klein und eng. Wenn es richtig gespielt wird, ähnelt das Spiel einem Tanz, bei dem sich die Spieler grazil in den Innenraum hinein und hinaus bewegen. Es ist nicht reine Etikette, auch für die eigene Sicherheit müssen die Spieler immer aufeinander achten, damit sie ihrem Mitspieler nicht bei einem plötzlichen Ausholen des Schlägers den Kopf abhauen. Mein Freund wusste davon nichts. Welch innerer Dämon in ihm auch immer auf dem Spielfeld erwachte, er machte ihn blind für alles außer den kleinen schwarzen Ball und der Dominanz über das Mittel-T. Dank ihm mussten meine Augenbrauen fünf Mal genäht werden.

Ich wollte ihn schlagen. Ich musste ihn schlagen. Es war weniger die Tatsache, dass er mich jedes Mal schlug, es war die Art wie er gewann – als ob ich ein unbewegliches Hindernis auf seinem Weg war. (Jetzt kann man fragen: Warum hast du Blödi dir nicht einfach einen anderen Squashpartner gesucht? Der Dämon meines Freundes hatte einen meiner Dämonen erweckt, und es gab kein Zurück.)

Wettbewerb unter Dämonen und ein Mädchen

Aber alleine konnte ich ihn nicht besiegen. Ich brauchte Unterricht. Der Lehrer, den mein Squash-Verein mir zuwies, traf mich auf dem Spielfeld. Sie – sie! – war ein dünnes, englisches Mädchen und sah aus wie 15. Ihre Schultern waren schmal, ihre Augen auf den Boden gerichtet, als ob sie selbst daran zweifelte mir etwas beibringen zu können. Ich muss ehrlich sein. Ich war fuchsteufelswild. Wie konnten sie es wagen, mir den (so nahm ich an) schlechtesten ihrer Lehrer zu geben? War ich ein so hoffnungsloser Fall, dass ich niemand besseren als dieses dürre Mädchen verdiente?

Wir begannen uns aufzuwärmen. Ihre Spielweise war nicht großspurig oder angeberisch: sie hat sich einfach auf den Ball konzentriert. Sie spielte alle meine Bälle mit tiefen, gleichmäßigen Schlägen zurück und begann nach und nach Bälle an schwierige Stellen zu platzieren, die außerhalb meiner Reichweite lagen. Wenn wir spielten, konnte ich sehen, dass sie nicht versuchte mich zu blamieren, sie zeigte mir Möglichkeiten und Kombinationen auf, an die ich vorher nie gedacht hatte.

Trotzdem war ich nach 15 Minuten vollkommen fertig. Und ich hatte nicht einen Punkt gewonnen. Da habe ich endlich verstanden: Ich hatte immer instinktiv gespielt, mich auf mein bisschen Schnelligkeit und Stärke verlassen – und mein Gehirn ganz außen vor gelassen. Wenn ich besser werden wollte, musste ich von vorn anfangen, jede Bewegung überdenken. Ich würde ganz bestimmt schlechter werden, bevor ich mich verbessern würde. Vor allem musste ich mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte, was ich eigentlich machte.

Wissen, dass man nichts weiß

Das war der Schlüssel: mir einzugestehen, dass ich nicht wusste. Wie einfach! Aber darauf war ich nie gekommen. Nicht zu wissen, war eine Erleichterung. Die Welt schien sich mir zu öffnen. Ich musste nicht wissen, es war in Ordnung nicht zu wissen, ich konnte mich in die Hände des Lehrers begeben – und nicht nur dieses Lehrers, nein, in die Hände aller Lehrer; alles war dazu da, nicht gewusst – aber gelernt zu werden.

Wenn ich das jetzt beschreibe, sehe ich Bilder vor mir von asiatischen Meistern mit Rauschebärten, die Schwertkunst und Meditation oder Blumen stecken lehren, aber damals dachte ich nicht an Lehrmeister, ich war nur froh endlich zu wissen, was es heißt, Schüler zu sein. Bring mir etwas bei! Füttere mich mit Wissen! Ich weiß nichts. Ich bin ein hungriger Vogel mit offenem Schnabel.

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Der Unterricht begann. Es war nicht wie das, was ich zuvor getan hatte – zusammenhangslose Fakten zu einer einigermaßen einheitlichen Idee zu verschmelzen. Es war grundlegender Stoff. Übungen, die bis zum Erbrechen wiederholt wurden und deren Sinn nicht ansatzweise klar war. Strategien überlegen. Statt vorzutäuschen – das konnte ich nicht mehr tun – musste ich aufnehmen, was meine Lehrerin mir zu lernen gab; ehrlich gesagt war das meiste einfach nur Wiederholung. Es war nicht immer schön. Es gab Zeiten, da hasste ich meine Lehrerin. Ich wurde schlechter. Langsam wurde ich dann auch besser. Nicht viel besser, aber genug, um zu erkennen, was ich falsch machte.

Ich konnte meinen Freund besiegen. Ein einziges Mal. Welch unbeschreibliche Freunde! Aber vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag. Ich schlug ihn nie wieder. Am Ende begriff ich, dass sein Bedürfnis zu siegen alle meine Anstrengungen übertraf und dass ich mich entscheiden musste zwischen einem Freund und einem Kampf bis zum bitteren Ende. Aber jetzt wußte ich wie man lernt. Sein Geschenk an mich.

Anm.d.Red.: Dieser Beitrag, übersetzt aus dem Englischen von Anne-Christin Mook, erscheint anlässlich des Berliner Gazette-Labors Knips das Licht selbst an!, im Rahmen dessen auch unser neues Buch Modell Autodidakt gelauncht wird.

6 Kommentare zu “Modell Autodidakt: Lernen, in Eigenregie zu lernen

  1. Der Mann hat einfach ganz und gar nicht Unrecht! Sympathische Sicht auf sich selbst.

  2. großartig, inspirierend diese offenheit, ehrlichkeit im großkotzigen und verlierermoment!

  3. Ein schöner Gedanke: dass zum autodidaktischen Lernen auch gehört zu lernen, ein Schüler zu sein. Das sollten wir als Gedanke auf jeden Fall mit in den Workshop nehmen.

  4. …der Artikel handelt über eben jenen EQ, die emotionale Intelligenz. Und die beginnt beim Bewusstsein….

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