Gelebte Zeiten

Mein Arbeitsbereich ist die Uni. Beschleunigungsmoeglichkeiten – und damit einhergehend Beschleunigungszwaenge – zeigen sich dort gegenwaertig durch technische Entwicklungen [Internet, Computer, Vervielfaeltigungstechniken], durch institutionelle Oeffnungen [akademischer Disziplinen, Arbeitsmaerkte, Kommunikationskanaele] und durch den starken Druck zu Wirtschaftlichkeit und globaler Wettbewerbsfaehigkeit des Unibetriebes. Diese Beschleunigungszwaenge fuehren in den Arbeitszusammenhaengen, in denen ich mich bewege zu einem Herumexperimentieren mit Moeglichkeiten des Zeitsparens hinsichtlich der Textaneignung, der Textproduktion, der Seminarvorbereitung und – durchfuehrung, der Beschaeftigungszeit pro Studierendem ohne dabei die Qualitaet der Ergebnisse zu vermindern.

Die Strategie, die mich in den vergangenen Jahren diesbezueglich fasziniert hat, besteht darin, von der rationalen Ebene des Selbst in der Begegnung mit der Welt umzusteigen auf eine affektive Begegnung mit der Welt. Man kann zwischenmenschliche Interaktion, Seminarbesuche, Lesen etc. darauf trainieren, innerlich entspannt, mit einer Art gleichschwebender Aufmerksamkeit die Dinge an sich vorbeiziehen zu lassen und dann innerlich nur auf Momente Resonanz zu geben, die einen besonders ansprechen. Deleuze und Guattari raten dazu, ihr Buch >1000 Plateaus< so zu lesen, wie man eine Lieblings-CD anhoert – ungefaehr so meine ich das auch. Das Selbst besteht in meiner Lesart aus einer Ebene, die sich rational in der Welt orientiert ueber Repraesentationen von Objekten als klar umrissener Einheiten [Ich], und aus einer anderen Ebene, die sich affektiv orientiert ueber taktiles Wahrnehmen momentaner libidinoes wahrgenommener Schwingungen und Impulse [Unbewusstes]. Identitaet findet auf der Ebene des Ich statt, gelebte Zeit dagegen auf der Ebene des Unbewussten. Beides sind unterschiedliche Formen des sich-in-Bezugsetzens zur Welt. Ich glaube, dass man mit dieser Technik von einer charakteristisch modernen Form des In-der-Welt-Seins auf eine charakteristisch postmoderne Form des In-der-Welt-Seins umsteigen kann, wenn Moderne als Kultur eines struktur-basierten Kapitalismus verstanden wird und Postmoderne als Kultur eines sich global entgrenzenden Kapitalismus. Ich glaube allerdings auch, dass man sich mit diesem neuen Orientierungsmuster lediglich an die innere Logik des Neuen anpasst, aber noch nicht darueber >hinausgeht<. Orientierung ueber libidinoese Schwingungen ist die Logik von Konsumkultur. Den Menschen als lebendige Einheit im eigenen Recht aus dem Blick zu verlieren und sich auf die libidinoesen Kicks zu verlassen im beruflichen wie privaten Umgang mit Welt, ist fuer mich zwar auch faszinierend, aber am Ende Inbegriff des Ausverkaufs innerer Werte an den gegenwaertigen Kapitalismus. Die Zeitdruckproblematik ist meiner Meinung nach ein realer, materieller Effekt globaler Entgrenzung. Aber wie gehen Menschen mit dieser Herausforderung um? Das ist sowohl eine materielle als auch eine symbolische Frage. Es gilt, angemessene Konzepte zu formulieren, mit denen Menschen sich dann individuell ihre Koepfe >moeblieren< koennen, um den materiellen Gegebenheiten bestmoeglich begegnen zu koennen. Ich stelle in meinem Buch >Gelebte Zeiten<, das in Kuerze erscheinen wird, dar, wie gelebte Zeit nicht nur dieses oben dargestellte Moment der Faszination und Attraktion hat, sondern wie es daneben auch ein Moment des sich in-Zeit-Gebens gibt – ein Moment, das Vertrauen, Verantwortung und das Erhalten von Beziehung ueber den momentanen Kick hinaus beinhaltet. Sich vertrauensvoll auf eine konkrete Begegnung einzulassen ist, so meine ich, die Voraussetzung fuer die Faszination an der Welt. Ich glaube, Sozialitaet als Perspektive des Widerstandes gegen den gegenwaertigen Kapitalismus kann ueber dieses zweite Moment gelebter Zeit entstehen, sowohl zwischen Menschen, als auch zwischen Menschen und natuerlicher und technischer Welt. [Siehe hierzu z.B. Antonio Negris Begriff der >Multitude< als Widerstandsmodell gegen ggw. Kapitalismus. Dort geht es viel um Zeit, und er scheint so ein Moment des sich vertrauensvoll Hineingebens in eine kollektive Jetzt-Zeit zu meinen, aber es wird nicht deutlich, wie so etwas konzeptionell aussehen kann.] Die Untersuchung fuer mein Buch >Gelebte Zeiten< fand, mehr oder weniger aus Gruenden biographischen Zufalls, in Guatemala, Zentralamerika statt – einer relativen Peripherie gegenwaertiger Beschleunigungszwaenge. Waehrend mehrerer frueherer Besuche hatte mich dort der alltaegliche Umgang mit Zeit in ganz besonderer Weise fasziniert. Daraufhin habe ich dieses Moment des sich scheinbar zeitlosen Hineingebens in Beziehungen an jenen Orten untersucht, an denen extern gegebene Umstaende eine Atmosphaere >offener Zeit< nahezulegen schienen. [Traditionelle Subsistenz, offene Maerkte, einfache Ueberlandbusse]. Die Aufgabe, die ich mir dann stellte, war, das dort Wahrgenommene so in Konzepte zu uebersetzen, dass es sich nach Europa, als ein Zentrum gegenwaertiger Beschleunigungszwaenge, mitnehmen liess. Die Ansaetze von Deleuze, zusammen mit inter-relationaler psychoanalytischer Theorie machten dies moeglich. Globale Entgrenzung schafft, wenn man dieser zeitbewusst begegnet, Freiraeume. Darin scheint es moeglich eigene, charakteristisch menschliche Zeitbeduerfnisse, wie die Anerkennung inter-relationaler Beduerfnisse nach Vertrauen und Verantwortung in jede individuelle Begegnung mit >Welt<, neben dem kapitalistischen Druck, sich durch Beschleunigung attraktiv und marktfaehig zu halten, mit einfliessen zu lassen.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.