Gegenwart als Politikum

In epochaler Abgrenzung zur >modernen Kunst< benennt das Fach Kunstgeschichte mit dem Label zeitgenoessische Kunst meist die Kunstproduktion ab etwa 1960, weil sich fortan ihre Medien und Gattungen verschraenkt haben und weil seitdem an breiter Front - nicht mehr nur ausnahmsweise - die Grenzen zwischen Kunst und Leben, freier und angewandter Kunst erodieren. Eine gegenwartsnaehere Epoche ist bislang nicht ausgerufen worden. Das wird mittelfristig wohl auch nicht mehr passieren, denn die Vielstimmigkeit der Kunst ist einfach zu gross geworden und moeglicherweise loest sich das Fach durch seinen Trend zur >Bildwissenschaft< demnaechst sowieso auf.

Von der kunsthistorischen Perspektive absehend, koennte mit >zeitgenoessischer Kunst< auch jene gemeint sein, die eben von Zeitgenossen hergestellt wird, also jede Kunst - und zwar nur diese - die in der Gegenwart entsteht. >Gegenwart< meint dabei natuerlich mehr als den aktuellen Moment oder den heutigen Tag. Je nach Massstab schwanken individuelle Begriffe davon zwischen dem laufenden Jahr und einer gewissen Anzahl von Jahren davor. In kurzlebigen Branchen wie der U-Musik ist das Zeitfenster >Gegenwart< tendenziell recht klein. So wuerden viele MusikliebhaberInnen zum Beispiel den Koelner Minimal Techno von vor etwa zehn Jahren wohl nicht mehr der Gegenwartsmusik zurechnen. Wer hingegen solche Musik nie sonderlich gemocht oder rezipiert hat, wuerde sie sicher zeitgenoessisch nennen. Offenbar ist also die jeweilige kulturelle Gegenwart fuer Connaisseurs ein enger Winkel, fuer Laien dagegen ein weiter Raum. Je besser man sich in einem Bereich der Kultur auskennt, je naeher man da herantritt und je mehr man sich damit beschaeftigt, desto schneller - so scheint es - entwickelt sich dieser Bereich. Aus der Distanz erkennt man nur die seltenen, grossen Veraenderungen und kann deshalb relativ leicht ein Bild daraus ableiten. Aus der Naehe mit all ihren Details ist ein Ueberblick viel schwieriger. Am Ball zu bleiben, d.h. etwas ueber diesen Bereich [und nicht nur einige seiner Ausformungen] sagen zu koennen, erfordert nun einen stetig sich beschleunigenden und groesser werdenden Einsatz und jeder Fund steigert die Komplexitaet des Bildes, die ihrerseits zum Dranbleiben stimuliert. Wer seiner Beschaeftigung mit grosser Leidenschaft nachgeht - sei es aus beruflichen oder privaten Gruenden - und diesen Effekt nicht mag, wird daran frueher oder spaeter verzweifeln. Man koennte sich intensiv mit zeitgenoessischer Kunst beschaeftigen, indem man deren umsatzstarke, zentrale Manifestationen in der ganzen Welt beobachtet und dann zu dem Ergebnis kommt, dass die globalisierten Biennalen Schnittmengen haben: Eine ueberschaubare Anzahl von KuenstlerInnen und ihre wiedererkennbaren Sortimente gelten offenbar weltweit als zeitgenoessische Kunst. Eine solche Perspektive waere aber nicht die des Connaisseurs, denn ihr entgeht, dass der Loewenanteil der gegenwaertig produzierten Kunst diesem Bild kaum entspricht. Das gilt nicht nur in juengst kolonisierten Kunstlaendern zum Beispiel im Nahen Osten, sondern auch in derart verdichteten und relativ breit abgefederten Kulturgesellschaften wie in Deutschland. In Schulen, Kreativkursen, privaten Zirkeln, Kulturzentren, Kuenstlerhaeusern, Ateliergemeinschaften, vielen kleinen und mittelgrossen Kunstvereinen und Ausstellungsinitiativen kann man sehen, dass sich dort der Grossteil der zeitgenoessischen Kunst vom Impressionismus oder von abstrakter Nachkriegsmalerei, von wirtschaftswunderlicher Stahlbildhauerei oder Pop-Collagen, von Body oder Land Art, von heftigem Neorealimus oder medienreflexiver Videokunst, von ortsspezifischer Projektkunst und von allerlei zeitlos gewordenen Meisterwerken inspirieren laesst - eben nicht bloss von jenem Ausschnitt, den die kunstbetriebliche Speerspitze heute als zeitgenoessisch bzw. als State of the Art erkennt. Vielleicht waere also eher jene Kunst >zeitgenoessisch< zu nennen, die unabhaengig von ihrem Herstellungsdatum und ihren historischen Stil- und Formreferenzen einfach einen adaequaten Ausdruck der Gegenwart darstellt? Fragt sich nur, auf wessen Gegenwart man sich dabei beziehen wollte und wie dann Adaequatheit festgestellt werden koennte. Moeglicherweise wuerde sich eine professionelle Mehrheit - das ist die mit dem distanzierten Gesamtblick auf Kunst - darauf einigen koennen, dass z.B. der ostalgische Surrealismus von Neo Rauch mehr ueber unsere Gegenwart zu sagen habe als etwa die attraktiven Plastiken des ungefaehr gleichaltrigen und aehnlich erfolgreichen Thomas Rentmeister. Aber das waere halt bloss ein kunstbetriebliches Machtwort. Wenn sich das Kriterium >adaequater Ausdruck fuer die Gegenwart< in Publikumszahlen spiegeln soll - und das waere ja irgendwie nahe liegend - dann sind wohl die Bilder von Salvador Dali und Pablo Picasso die wahrhaft zeitgenoessische Kunst heute. Und auf der documenta - das ist die mit der hoechsten Einschaltquote - wird offenbar die meiste zeitgenoessische Kunst erwartet. Immerhin. So gesehen, ist die Moderne unsere Gegenwart.

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