Geduld für Teilhabe

Entschleunigung und nicht Beschleunigung lautet das Gebot der Stunde. Entgegen der haeufig geaeusserten Prognose vom >Wettlauf gegen die Zeit< glaube ich das. Und das schreibe ich auch, obwohl ich menschliche Grundtechniken wie Reden, Lesen, Essen und Gehen schnell taetige und mich Menschen mit langsamen Zungenschlag in Stress versetzen.

Wie ich finde, lassen sich immer vermehrter kleine, mehr oder weniger subversive Entschleunigungstendenzen ausmachen, vermutlich als Reaktion auf >Beschleunigungszwaenge< des Alltags. Von einem Sieg der Langsamkeit ueber den von Paul Virilio diagnostizierten >Rasenden Stillstand< laesst sich zwar nicht sprechen, uebersehen lassen sich diese kleinen Entschleunigungstendenzen jedoch auch nicht. Der taz-Autor Uh-Young Kim beobachtete in der Ausgabe vom 9. Januar dieses Jahres zum Beispiel, dass die Beats in der gegenwaertigen elektronischen Musik im Vergleich zu den 1990er Jahren langsamer werden. Fuer eine aehnliche Tendenz steht der programmatische Album-Titel >quite is the new loud< der norwegischen Band Kings of Convenience. Die Veroeffentlichung dieser Platte im Jahr 2001 fuehrte dazu, dass sich einige Journalisten dazu veranlasst fuehlten, eine >neue< popkulturelle Bewegung auszurufen, die sich Entschleunigung im akustischen Format auf die Fahnen schreibt. Der kleine Boom der Wohlfuehl- und Wellnessindustrie, mit seinen Yoga-Schulen und asiatischen Entspannungstechniken, laesst sich auch als Zeichen eines wachsenden Interesses an Entschleunigung lesen [was paradoxerweise mit oekonomischem Werten wie Produktivitaetssteigerung konform geht]. Zudem gewinnt Slow Food, beziehungsweise das Verstaendnis von Kochen und Essen als einer viel Zeit beanspruchenden Kulturtechnik [zumindest im Fernsehen] an Bedeutung. Ein Blick in die Literatur zu >Zeitmanagement< bestaetigt die These: Es gilt >work smart, not hard< und ich lerne, dass man produktiver sein kann, wenn man beruecksichtigt, ob der eigene Biorhythmus einer Eule oder eine Lerche aehnelt. Sich ueber mangelnde Zeit zu beklagen, ist immer auch Ausdruck von Macht und Prestige. Zudem naehrt der Termindruck die Illusion der eigenen Unersetzlichkeit. Von daher entwickle ich hierbei weder Selbstmitleid noch Mitgefuehl. Fuer mich besteht die >Zeitdruck-Problematik< eher darin, dass es eine Art >soziale Zeit-Schere< gibt: Die einen haben das Privileg, dank ihrer Bildung ihre Zeit mit Dingen zu verbringen, die ihnen Sinn stiften. Sie partizipieren an etwas und gestalten damit ihr Leben und ihr Umfeld. Waehrend diese Gruppe sich verwirklichen kann und dabei eben regelmaessig unter Terminstress geraet, muessen andere fuer ihre Existenzsicherung uninspirierende und im schlimmsten Fall demuetigende Dinge tun. Zugang zu Teilhabe gewinnen sie durch ihre Taetigkeit nicht. Ueber seine Zeit zu verfuegen und sie sinnhaft zu gestalten, ist ein Privileg einer Gruppe von Menschen, die fern von relativer Armut aufwachsen. Diese Leute haben Verwirklichungschancen, weil sie Zeit haben, die anderen fehlt. Von daher ist die >Zeitdruck-Problematik< eine materiell begruendete. Die Debatte ueber die Einfuehrung eines Grundeinkommens verdeutlicht diesen Aspekt ganz gut. Ein Pro-Argument lautet bekanntlich, dass es in der Frage einer Arbeitspolitik in Zeiten eines Grundeinkommens nicht um Beschaeftigung um jeden Preis gehen sollte, sondern darum, dass Menschen Taetigkeiten ausueben, die sie persoenlich oder gesellschaftlich als sinnvoll erachten. Es ist nicht von Vorteil, vom Termindruck verschont zu werden oder im Besitz von unendlich viel Zeit zu sein. Eher kommt es auf die Moeglichkeit an, Zeit sinnstiftend zu nutzen. Studien zu Arbeitslosigkeit zeigen immer wieder, dass der Besitz von viel Zeit ein tragisches Geschenk ist. Sie wird unbedeutend, da der Lebensrhythmus aus den Fugen geraet. Der polnische Arzt und Kinderbuchautor Janusz Korczak forderte vor knapp 100 Jahren ein Menschenrecht auf Zeit fuer Kinder. In die Kinderrechtskonvention wurde diese Forderung nicht aufgenommen. Auch wenn es kein Menschenrecht auf Zeit gibt, spielt Zeit indirekt bei einigen Menschenrechten eine Rolle. Das Recht auf Bildung zum Beispiel geht ueber die eigentliche Bedeutung von Bildung hinaus. Anders als das Recht auf Religionsfreiheit geht es in dem Recht auf Bildung nicht nur um das Recht auf etwas, sondern auch um Rechte in der Bildung. Rechte innerhalb einer Religion sieht das Recht auf Religionsfreiheit dagegen nicht vor. Rechte in der Bildung zu haben, bedeutet, dass sich das Bildungssystem an den Lebenslagen der Kinder orientieren muss und nicht umgekehrt. Schulen sollten Kinder nicht an einer allgemeinen Norm messen, sondern das Lerntempo jedes Kindes anerkennen. Wenn Kinder langsamer sind als die meisten ihres Jahrgangs, muessen sie dagegen heute in Deutschland eine Klasse wiederholen oder werden auf eine Sonderschule ausgesondert. Ein Recht auf Zeit laesst sich dann als Recht auf die eigene Geschwindigkeit verstehen.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.