Anklagen oder Eingestehen: Gauck, Erdoğan und Deutschlands erster Völkermord

Genozid an Armeniern: Bundestag und Bundesregierung stehen beinahe geschlossen hinter Gaucks mahnenden Worten in Richtung Türkei. Derweil bleibt Deutschlands erster Völkermord im heutigen Namibia uneingestanden. Anklagen scheint einfacher als Eingestehen. Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Maik Gerecke kommentiert.

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Deutschlands erster Völkermord – das ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte. Es spielt im deutschen „Schutzgebiet“ Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, offiziell errichtet und zur Kolonie ausgebaut. Schon zwanzig Jahre später kam es dort zu einem Massaker an den Herero und Nama.

Die Bundesregierung erkennt dieses Massaker von 1904 nicht als Völkermord an. Bis heute nicht. Es sollte uns verwundern, nicht zuletzt weil Bundestag und Bundesregierung inzwischen beinahe geschlossen hinter Gaucks mahnenden Worten in Richtung Türkei stehen: Erdoğan habe dieses Jahr die historische Chance verpasst, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen, wie es kürzlich in der Berliner Zeitung hieß.

Deutschland hat vor einigen Jahren eine sehr ähnliche Gelegenheit gehabt. Elf Jahre später sieht es aber immer noch nicht danach aus, als wolle man da etwas nachholen.

Es war einmal in Afrika

1884 hatte das deutsche Reich damit begonnen, Namibia zu kolonialisieren. Um Platz für deutsche Siedler zu schaffen, wurden die Einheimischen von ihrem Land vertrieben und enteignet. Zwanzig Jahre später lehnten sich die Stämme Herero und Nama gegen die Kolonialherren auf, worauf man von deutscher Seite militärisch reagierte.

Zu einem Massaker wandelte sich dieser Kampf, als Generalleutnant Lothar von Trotha den gewaltsamen Verteidigungsschlag auf unbewaffnete Herero und Nama ausweitete, zu denen auch Frauen und Kinder zählten. Genaue Opferzahlen sind heute nur noch schwer zu belegen, manche Schätzungen sprechen allerdings von fast 100.000 Toten. Überlebende, die ungefähr 20 Prozent der gesamten Bevölkerungsgruppe ausmachten, brachte man hinterher in Konzentrationslager, um sie dort Zwangsarbeit verrichten zu lassen. Manche Historiker bezeichnen diese Ereignisse auch als den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Anklagen ist leichter als Eingestehen

Trotz der Sachlage lehnt es die Bundesregierung bis heute ab, den Völkermordsstatus des Massakers in Namibia anzuerkennen. Zum Genozid an den Armeniern sagte Cem Özdemir, Bundestagsvorsitzender der Grünen, in einer Bundestagsrede kürzlich: „Wer sich mit den dunklen Flecken der Geschichte beschäftigt, der wird daran nicht kleiner, sondern im Gegenteil: der wächst daran.“ Er betonte außerdem, dass wir uns als Deutsche unserer Mitschuld bewusst sein sollten, die sich aus dem tatenlosen Zusehen ergeben hätte.

Ein dunkler Fleck sind die Ereignisse um 1904 in der Tat, aber anscheinend lange nicht so Sensations- oder Skandalfähig wie die dunklen Flecken anderer. Dem Zorn und der Zurückweisung aller Kritik seitens der türkischen Regierung begegnet man mit Kopfschütteln, einem brutalen Massenmord, der auf das eigene Konto geht, hingegen mit Schweigen. Nun ließe sich vielleicht vermuten, dass eine derartige Ignoranz von mangelnden Geschichtskenntnissen unter Bundestagsabgeordneten herrührt. Heidemarie Wieczorek-Zeul von der SPD, ehemalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, wies allerdings schon vor Jahren auf die deutsche Verantwortung gegenüber den Nachfahren der ermordeten Herero und Nama hin.

Sie reiste 2004 zur hundertjährigen Gedenkfeier nach Namibia. Dort hielt sie eine Rede, in der sie sich dafür aussprach, die damaligen „Gräueltaten“ als Völkermord anzuerkennen. Weil sie ihre Rede vorher nicht vom Auswärtigen Amt oder dem Bundespräsidialamt hatte absegnen lassen, sei sie sich hinterher nicht sicher gewesen, ob damit ihre politische Karriere beendet sei, wie sie es neulich der Süddeutschen Zeitung in einem Interview sagte. Letztlich war jedoch weder der hundertste Jahrestag des Herero-und-Nama-Aufstandes, noch Wieczorek-Zeuls Rede von damals dazu in der Lage, einen derartigen Aufschrei zu produzieren, wie ihn Joachim Gaucks Rede heraufbeschworen hat.

Völkermord: Ja oder Nein?

Völkermord“ ist nach wie vor ein schwieriger Begriff. Ein konkretes Ereignis als solchen zu bestimmen, gestaltet sich dabei noch schwieriger, vor allem weil man dazu die genauen Absichten der Täter kennen müsste, wie es laut der Genozid-Konvention der UN heißt. Ein Verbrechen gilt demnach als Völkermord, wenn es sich gegen eine bestimmte Nation, eine Volks- oder religiöse Gruppe richtet, mit dem Vorsatz, diese zu vernichten.

Bei den Ereignissen von 1904 gab von Trotha die Anordnung, jeden „Herero mit oder ohne Gewehr“ innerhalb deutscher Grenzen zu erschießen. Danach wurden auch tausende Menschen in die Wüste getrieben, wo sie verdursteten, weitere starben später in den Konzentrationslagern. Die Absicht der kaiserlichen Regierung sei es gewesen, den Gegner niederzuschlagen, nicht aber, ihn zu vernichten. Bedenkt man jedoch von Trothas Vorgehen, so ist ersichtlich, dass die kaiserlichen Absichten schlussendlich mit dem Mittel der gezielten Vernichtung einer bestimmten Volksgruppe in die Tat umgesetzt wurden.

Man kann argumentieren, dass von Trotha nicht im Sinne der damaligen deutschen Regierung gehandelt hätte. Wird hier ein Völkermordsstatus nicht anerkannt, bleibe wohl nur noch der eines unangenehmen Missverständnisses zwischen Kaiserreich und Generalleutnant von Trotha mit völkermordartigen Konsequenzen.

Die offizielle Zurückweisung Deutschlands beruft sich darauf, dass die Uno erst 1945 entsprechende Normen festlegte, anhand derer man einen Völkermord feststellen könne. Das bedeute, die Ereignisse in Südwest-Afrika seien verjährt und Entschädigungen seien rückwirkend nicht mehr möglich, so ein Artikel des Tagesspiegels von 2008. Da fragt es sich natürlich, weshalb die Taten der Deutschen von 1904, nicht aber die der Türken von 1915 verjähren. Anscheinend wird hier mit zweierlei Maß gemessen.

Kein Wachstum für Deutschland

Wachsen, so wie Özdemir es anrät, will man im Bundestag also selbst anscheinend nicht, außer wirtschaftlich. Im Aufschrei um die dunklen Flecken in den Historien anderer – mag es auch noch so gerechtfertigt sein – gehen die eigenen derweil ganz still und heimlich unter.

Trotz allem ist die Bundesrepublik in der Entwicklungshilfe für Namibia stark engagiert. Über die letzten zwanzig Jahre erhielt Namibia insgesamt einen dreistelligen Millionenbetrag in Form von Hilfsgeldern. Durch die Anerkennung des Völkermordsstatus könnte diese Summe allerdings schnell in die Milliarden steigen, denn die heutigen Reparationsforderungen der Herero wären in diesem Fall nur noch schwer abzuweisen. Ob die Bundesregierung letztlich noch ein Sinneswandel ereilt, bleibt also stark zu bezweifeln.

Wieczorek-Zeul zufolge geht es dabei aber nicht um Geld, sondern um Würde und Respekt. Gerade nach den Äußerungen Gaucks halte sie ein deutsches Bekenntnis zum Völkermord an den Herero und Nama für „unvermeidlich“. Um Würde und Respekt für die Armenier ging es der Weltöffentlichkeit vermutlich auch, als sie mit dem Finger auf die Türkei zeigte. Klar ist allerdings: An die eigene Nase wollen sich die wenigsten fassen. An die eigene Staatskasse noch weniger.

Anm.d.Red.: Die Fotos (2-4) stammen von Mariusz Kluzniak. Das Startbild stammt von Eric Montfort. Alle Fotos sind im heutigen Namibia entstanden und stehen unter einer Creative Commons Lizenz (cc by 2.0).

5 Kommentare zu “Anklagen oder Eingestehen: Gauck, Erdoğan und Deutschlands erster Völkermord

  1. Die Niederschlagung der Herero-Aufstände waren bereits Wahlkampfthema der SPD 1906, die daraufhin die Wahl verlor. Fast alles, was wir darüber wissen, war schon im Kaiserreich Teil der öffentlichen Debatte. Das Vorgehen wird auch als Völkermord klassifiziert, wobei tatsächlich die Anforderungen an den Begriff nicht so hoch sind, wie es uns erscheinen mag. Der Grund, warum das Thema gerade hoch gespielt wird, ist die vollkommen inakzeptable Haltung der Türkei zur Armenierfrage und die Zögerlichkeit der deutschen Diplomatie. Man muss sich wundern in türkischen Bildungsvereinen in Berlin Auslagen über die “Armenierlüge” zu finden. Letzten Endes bleibt die Frage wie eine gute Niederschlagung des Hereroaufstandes ausgesehen hätte.

  2. @Andre #3: Wie ist denn dein letzter Satz zu verstehen? “Letzten Endes bleibt die Frage wie eine gute Niederschlagung des Hereroaufstandes ausgesehen hätte.”

  3. @#3: Eine Sache ist es, die aktuelle Debatte auf ihre Ursachen hin zu befragen: Warum wird gerade einer Thematik Gehör geschenkt? und so weiter.

    Eine andere Sache ist, die Deutung des anderen/eigentlichen Problems zu verschieben: “Letzten Endes bleibt die Frage wie eine gute Niederschlagung des Hereroaufstandes ausgesehen hätte. ”

    Denn egal wie dieser Satz gemeint ist, ob er möglicherweise unglücklich formuliert ist: Es geht in der Gegenwart in erster Linie um das (ausbleibende) Eingeständnis eines Völkermordes.

    Und nicht um wie ein rechtsformes kolonial-militärisches Vorgehen gegen einen Aufstand aussehen kann.

    Wer letzteres propagiert, verschiebt die Deutung des anderen/eigentlichen Problems der aktuellen Debatte auf unlautere Weise!

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