Fast oder Slow Food?

Die Idee, das Essen und Trinken mit dem Thema >Zeit< zu verknuepfen, kam mir, als ich aus beruflichen Gruenden immer weniger Zeit fand, um in Ruhe zu essen und zu trinken. Der Eindruck, zu wenig Zeit zu haben, stellt einen gaengigen, aber wie sich bald zeigte, stark reduzierten Zugang zum Thema Zeit dar.

Die Zeitbeobachtung in Form von Zeit >haben/nicht haben< fuehrt dazu, die Minuten zu zaehlen, die man taeglich beispielsweise fuer das Einkaufen, die Zubereitung und den Verzehr von Nahrungsmitteln aufwendet. Ueber die Qualitaet dieser >Mahl-Zeiten< aber sagen die Messungen nicht mehr aus als ihr Kaloriengehalt. Das wurde mir klar, als ich nach der Geburt unseres Sohnes wieder haeufiger dazu kam, Speisen selbst zuzubereiten. Die gemeinsamen Mahlzeiten bescherten mir eine voellig neue Zeiterfahrung: ich bemerkte, dass diese Zeit nicht einfach ablief, sondern erst durch uns entstand. Daher habe ich fuer mein in Kuerze erscheinendes Buch den Titel >Doing Time< gewaehlt. Die gegenwaertigen Debatten ueber die >Unterschicht< scheinen ohne das Bild vom unmanierlichen und schlecht essenden Faulpelz nicht auszukommen. In meiner Taetigkeit als Marktforscher interessant erschien mir nun, die auf der Sachebene gut eingespielte Identifikationsleistung in der zeitlichen Dimension zu untersuchen. Ein guenstiger Umstand war, dass in der Soziologie derzeit wenig Einigkeit darueber herrscht, in welche Gruppen die Gesellschaft einzuteilen ist. Das gestattete mir, Gruppen anhand von Zeitverhaeltnissen zu umreissen. Konkret habe ich das in meinem Buch in Bezug auf >Zeitpioniere< und >flexible Menschen< getan. Sie verkoerpern zwei typische Formen von dem, was man als >Prozess der Flexibilisierung< bezeichnen kann. Als >flexiblen Menschen< hat der Soziologie Richard Sennett einen jungen Mann beschrieben, der damit hadert, dass in seinem privaten Leben nichts auf Dauer gestellt ist, waehrend er beruflich nicht zoegert, bestehende Bruecken hinter sich abzureissen. Als >Zeitpioniere< hat dagegen Karl Hoerning Menschen dargestellt, die sich solchen Zumutungen entziehen, indem sie weniger Zeit fuer Arbeit anberaumen, um mehr Zeit fuer sich selbst zu haben. Diese Typen belegen, dass der Sturm der Flexibilisierung nicht ueber alle gleich hinwegfegt. Sobald mir klar wurde, dass ich Mahl-Zeiten durch die Entscheidung fuer bestimmte Lebensstile bekommen wuerde, fehlte nur noch das begriffliche Erfassen dieser Verbindung. Am besten schien es mir, Mahlzeiten allgemein als >Episoden< zu verstehen. Solchermassen gewappnet konnte es losgehen: ich fragte Zeitpioniere und flexible Menschen in Face-to-Face-Interviews, wie sie ihr Leben leben und liess sie daraufhin einige fuer sie typische Ess- und Trinkepisoden schildern. Heraus kam eine hohe Konsistenz der zeitlichen Gestalten von Leben, Essen und Trinken innerhalb jeder Gruppe. Diese >Muster des Zeitens< beziehungsweise diese >Eigenzeiten< sind deutlich komplexer als es die gaengigen Begriffe von Zeit suggerieren, wie etwa der >Zyklus< oder die >Linie< im Zusammenhang mit Lebensphasen oder >fast< und >slow< in Bezug auf >Food<. Diese Perspektive laesst sich auf andere Esskulturen ausweiten. Wichtig ist es, Mahlzeiten als Episoden zu kontextuieren, anstatt sie wie in Kochbuechern anhand von Gerichten zu isolieren. Wer in einer deutschen Kleinstadt in Ruhe Sushi und Gruentee geniessen will, verzehrt eine buchstaeblich andere Zeit, als jemand in einem Tokioter Schnellrestaurant. Das legt den Gedanken an eine Art Landkarte der Mahl- und Lebenszeiten nahe, wie sie Robert Levine in seiner >Geography of Time< fuer den Umgang mit Zeit angedeutet hat. Mir scheint allerdings, dass solche Lokalisierungen immer schwieriger werden, je mehr wir es mit weltumspannenden Lebensstilen zu tun bekommen. Wer in einer der schicken, neuen Suppenbars zu Mittag isst, lebt eine Zeit, die unter Umstaenden derjenigen von weiter entfernten Personen aehnlicher ist als der Zeit derjenigen, die sich ein paar Schritte weiter zur >Knusperhaxe mit Salatgarnitur< niederlassen. Natuerlich sind diese Dinge keine vollkommen neue Phaenomene. Die franzoesische Haute Cuisine und die amerikanische Fast-Food-Industrie sind wohl die bekanntesten Beispiele fuer die Globalisierung von Mahlzeiten mit Markerfunktion fuer bestimmte Lebensweisen. Lange Zeit galt das mehrgaengige Menue als allein adaequate Form des Essens und Trinkens fuer jene Menschen, die mehr als den Umgang mit Messer und Gabel beherrschen. Und im Zentrum speist ganz in Ruhe der, zu dessen Wohl sich andere mit der Praezision eines Uhrwerks bewegen. Fast Food bildet in seiner Unbekuemmertheit eine populaere Gegenbewegung. Wer es seither zu etwas bringen will, muss mehrere Mahl-Zeiten kombinieren koennen: es kommt darauf an, im richtigen Augenblick zwanglos aufzutreten oder Manieren zu zeigen. >Doing Time< heisst also mehr als etwas unter Zeitdruck tun. Natuerlich muss man im Auge behalten, dass viele Menschen ihr Leben in Kategorien wie Geschwindigkeit und Zeitknappheit organisieren. Dabei knirscht es und knarzt es und der Wunsch waechst, wenigstens Essen und Trinken nebenbei zu erledigen. Das Resultat lautet dann >Coffee to go<. Aber, ist das alles? Mich erinnert das an die Bahn, die 2002 verkuendet hatte, dass ihre Schnellzuege derart beschleunigen koennten, dass eine Mitnahme von Speisewagen in keiner Weise mehr zeitgemaess sei. Und heute? Heute faehrt die Bahn haeufig noch schneller und zugleich gibt es die Bordrestaurants wieder – in einer besseren Qualitaet als zuvor.

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