Zeit für das große Ganze: Warum Europa keine Solidarität braucht – sondern Demokratie

Ob für oder gegen Griechenland: gerne beruft man sich auf Solidarität. Doch das bisherige „Hilfs“-Programm war niemals ein solidarischer Akt. Zudem lenkt der starke Fokus auf Griechenland von den eigentlichen Problemen der EU ab. Was wir brauchen, ist keine Solidarität, sondern Demokratie – meint Thessaloniki-Korrespondent und Berliner Gazette-Autor Florian Schmitz.

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Selten schien man in Europa so solidarisch miteinander. Milliarden an Steuergeldern wurden aufgewandt, um die in Not geratenen Länder aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Hilfskredite, Eurorettung, Friedensnobelpreis. Die EU-Regierungen, allen voran die Kanzlerin und ihr Finanzminister, feiern die Euro-Rettung als gelungenen Erfolg. Alle seien unter den notwendigen Entbehrungen durch das tiefe Tal geschritten und endlich ginge es aufwärts. Alle außer Griechenland.

Vom Rettungsschirm zur Kapitalkontrolle

Unverständnis herrscht bei den Deutschen. Unverständnis und Wut. Hat man sich doch jahrelang solidarisch-großzügig gezeigt. Die Kanzlerin selbst hatte es immer betont: alternativlos waren die Rettungsmaßnahmen. Schnell durchgewunken im Parlament. Hilfe. Völlig unbürokratisch und – vor allem – uneigennützig. Dieser Eindruck zumindest entsteht, wenn man das (gescheiterte) Krisenmanagement Revue passieren lässt. Und nun auf einmal bocken die Griechen. Man will das Volk befragen. Das solidarische Herz zerbricht in tausend Stücke.

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist das vermeintliche Hilfsprogramm ausgelaufen. Ein Programm, das vorsah, „Hilfs“-Kredite (ein Kredit ist per Definition keine Hilfsleistung) an ein völlig bankrottes Land zu zahlen, nur, um sich das Geld dann direkt wieder auszahlen zu lassen. Das muss man erst einmal verstehen. Und jetzt wird die Lage brenzlig in Hellas. Schon wieder.

Die Luft auf den Straßen ist zum Schneiden. Schlangen vor jedem noch funktionierenden Geldautomat. Nur 50 Euro dürfen täglich pro griechischem Konto abgehoben werden (für Ausländer gilt das nicht). Viele Menschen haben keine Bankkarte und sind von der Geldversorgung abgeschlossen. Kapitalkontrolle. Ausnahmezustand. Und in Deutschland spalten sich – abgesehen von den vielen Indifferenten – die Lager: Die einen sprechen von „Solidarität jetzt erst recht.“ Die anderen, darunter auch die deutsche Bundesregierung, meinen, die Grenzen der Solidarität seien erreicht.

Besser verhandeln als solidarisieren

Dabei wird es Zeit, den heiligen Solidarschein auszuknipsen und endlich am Tisch der Fakten einzukehren. Ein Fakt beispielsweise ist, dass die „Angebote“ der EU an Griechenland nach den kräftezehrenden Monaten ewig dauernder Verhandlungen einfach nicht annehmbar sind.

Mehrwertsteuererhöhung? In einem Land, in dem diese bereits über dem europäischen Durchschnitt liegt und in dem der Binnenmarkt quasi kollabiert ist? In einem Land, in dem der Mindestlohn 3,35 Euro beträgt und mehr als ein Viertel der Bevölkerung keine Arbeit hat? Und: Unternehmenssteuer erhöhen? In einem Land, in dem ein Unternehmen nach dem anderen Konkurs anmeldet und das dringend auf Investoren aus dem Ausland hofft?

Man muss kein Experte sein, um zu verstehen, dass solcherlei Forderungen genau das verhindern, was – laut Aussage der selbsternannten Euro-Retter – das Kernziel der Hilfsprogramme war: Wachstum. Ganz sicher kann man sagen: In Griechenland hat das Programm nicht „geholfen.“ Und – gegensätzlich zu offiziellen Aussagen: Auch in den anderen Ländern bleibt die große helfende Wirkung aus.

Griechenland hat Probleme, ist aber keins

Weder in Spanien, noch in Portugal hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt wesentlich gebessert. Die konservativen Regierungen dort sprechen von Erfolgen, doch sie warten nur darauf, abgewählt zu werden. Polen (noch kein Euro-Land) ist eine der am stärksten wachsenden Wirtschaftsmächte Europas – und erlebt gerade die größte Auswanderungswelle seit dem 2. Weltkrieg. In Deutschland siedelt der paritätische Wohlfahrtsverband die Armutsquote auf 15,5 % an. Überall in Europa brodelt es, doch scheint dies durch die mediale Einkesselung Griechenlands niemandem so richtig aufzufallen.

Lieber zeigt man sich solidarisch mit dem isolierten schwarzen Schaf, als sich darüber bewusst zu werden, dass die Krise kein Problem à la Hellas ist und sich auch über dessen Grenzen hinaus nicht in Luft aufgelöst hat. Doch mit der medialen Lupe über einem Land, das bereits lange bankrott ist, wirkt die Situation vor der Haustür schon viel besser. Solange man sich auf die Griechen konzentriert und so tut, als hätten die Probleme dort nichts zu tun mit den zahllosen Problemen der EU, wiegt man sich in Sicherheit.

Solidarisch ja – aber nicht mit Tsipras

Auffällig ist, wie solidarisch die EU mit dem Vorgänger von Ministerpräsident Alexis Tsipras war. In der Zusammenarbeit mit der Samaras-Regierung gab es keine Beanstandungen. Man sprach von den Reformbemühungen Griechenlands und den guten Fortschritten. Da schüttelte man sich solidarisch die Hand, während das Wachstum ausblieb. Fakt hier ist: Die Vorgänger-Regierung unter Samaras hat nicht eine einzige sinnvolle Reform durchgeführt. Nicht eine einzige.

Es sind Steuern auf Kinder erhoben worden, weil diese als Luxus gelten und Luxus erfordert nun mal Geld. Als Freiberufler zahlt man ab dem nullten Euro Steuern, denn bereits wenn man sich bei einer Innung oder Berufsvereinigung registriert, kassiert der Staat monatlich Steuern für nicht verdientes Geld. Die Samaras-Regierung hat gegen geltendes Recht verstoßen, Strandgrundstücke zum Verkauf angeboten und den Staatssender vom Netz genommen. Weder das Steuersystem ist reformiert, noch sind Steuerflucht und Korruption bekämpft worden.

Da aber war Europa solidarisch genug, alle Augen zuzudrücken. Erst als Tsipras kam, samt seinem Finanzminister, wurde man kritisch. Beide sind jetzt die auserkorenen Unsolidarischen im vereinten Europa. Dass die Forderungen der EU ihrem Land den Todesstoß versetzt hätten, spielt dabei keine Rolle. Von den einen als unverschämte Lausbuben oder auch gefährlichste Männer Europas verschrien, werden sie von anderen als Helden zelebriert.

Fakt ist ebenfalls: Auch die Syriza-Regierung ist die notwendigen Reformen bis dato nicht angegangen. Und anstelle von blinder Solidarität wären die europaweit vielen Anhänger besser beraten, der neuen Regierung kritisch über die Schulter zu schauen. Den Staatssender haben sie wieder aufgemacht und bieten den Austeritäts-Institutionen Paroli. Doch leider haben sich die Hoffnungen, Varoufakis würde einen genialen Plan zur Steuerreform aus der Schublade ziehen und beginnen, mit dem elenden Korruptionschaos in Griechenland endlich aufzuräumen, nicht erfüllt. Egal ob „Nai“ oder „Oxi“ – das Land muss endlich seine Probleme angehen.

Ja und Nein zu was denn nun?

In dieser Stimmung nun lässt Tsipras die Griechen abstimmen. Ein notwendiges Referendum, das unter einem schlechten Stern steht. Technisch gesehen geht es nur darum, das „Angebot“ der EU (das sie ja mittlerweile wieder zurückgezogen hat) anzuerkennen (Ja) oder abzulehnen (Nein). Durch die verhärteten Fronten aber zwischen der griechischen Regierung und der EU wird die Abstimmung gewertet als ein Bekenntnis für oder gegen Europa (so etwa, wie das Referendum, das derzeit in Österreich vorbereitet wird).

Für die Griechen bedeutet dies zu wählen zwischen: „Ja, ich entscheide mich für ein „Hilfs“-Programm, das dem Land bisher jede Möglichkeit zur wirtschaftlichen Erholung verwehrt hat und einen Staatenbund, der das eigene Scheitern nicht anerkennt.“ und „Nein, wir riskieren den Austritt aus der Währungsunion und somit wirtschaftliche Isolation, mit einer Regierung, die als großer Hoffnungsträger bisher untätig geblieben ist.“ Die Menschen, die zu einem „Ja“ tendieren fürchten sich davor, den Euro zu verlieren. Sie fühlen sich sicherer mit der gemeinsamen Währung und als Mitglied der EU. Die anderen, die zum „Nein“ tendieren, sind erschöpft vom Spardiktat. Die letzten Jahre unsäglicher Stagnation lasten stärker, als die Angst vor der Isolation.

Nun warten alle auf Sonntag. Die Börsen reagieren positiv auf jede kleine Annäherung und negativ auf jeden Streitpunkt. Und ein Volk, dem eine Woche lang kein oder nur geringer Zugang zum Restkapital gegeben wurde, soll an den Urnen über sein Schicksal entscheiden. Keine Idealvoraussetzungen für eine demokratische Abstimmung – vor allem deswegen nicht, weil sich die letzten Wochen alles andere als demokratiefreundlich gezeigt haben.

Griechenland und die EU

Nein, sehr demokratieaffin haben sich die „Institutionen“ bzw. hat sich Europa gegenüber den Griechen wirklich nicht gegeben. Schon bei Tsipras’ Wahlsieg hatte Frau Merkel keine guten Worte für ihren frischgebackenen Amtskollegen. Die angeblichen Verhandlungen hatten dann mit einer Auseinandersetzung auf Augenhöhe ebenfalls wenig zu tun. Vielmehr haben sich die vorher so solidarischen „Geber“-Länder nach dem Regierungswechsel in Athen schlichtweg geweigert, eine umfassende Manöverkritik hinsichtlich der Sparpolitik anzugehen – vor allem auf Druck der Bundesrepublik.

Mit anderen Worten: Griechenland hatte zu keinem Zeitpunkt eine Chance, die Verhandlungspartner von ihrem Standpunkt abzubringen. Denn dann hätte Europa Fehler zugeben müssen. Da aber hört die Solidarität auf. Das Ergebnis ist jenes Angebot, über das am Sonntag abgestimmt werden soll. Ein Angebot, das in fast jedem Detail dem gleicht, was vor den Verhandlungen galt.

Staatenbund vs. Nationalstaat

In all dieser Panik um Griechenland und mit all dem verletzten Solidaritäts-Stolz vergisst man wie immer das Wesentliche: Es wird Zeit, sich auf ganz Europa zu konzentrieren. Der Staatenbund befindet sich auf einem schlechten Kurs und die Re-Nationalisierung der Mitgliedsländer ist die Folge. Anti-Europa Bewegungen jenseits der rechten Mitte sind gesellschaftsfähig geworden – sind ein Teil unseres Alltags. Flüchtlinge verelenden dies- und jenseits der EU-Grenzen. Ganze Länder werden geopfert. Das ist das Gegenteil von Solidarität. Das ist eine Verkennung der prekären Lage in ganz Europa.

Das größte Versagen de EU in diesem Kontext liegt genau dort, wo auch der griechische Staat bisher untätig geblieben ist. Die Aufgabe einer regierenden Verwaltung ist es, Strukturen zu schaffen, innerhalb derer ein soziales Konstrukt am Leben erhalten werden und sich entwickeln kann. Brüssel muss funktionierende Kanäle zwischen den einzelnen Nationalstaaten schaffen, die es den Bürgern ermöglicht, Arbeitsplätze zu schaffen und die vielen Ressourcen Europas sinnvoll zu nutzen. Gerade der Wissenstransfer sollte hier im Vordergrund stehen.

Mehr EU, aber mit Betonung auf Union

Alles jedoch, womit die EU bisher in Verbindung gebracht wird, ist das Scheitern eines Hilfsprogramms, das über Jahre den tatsächlichen Status quo Griechenlands einfach überdeckt hat. Würde die EU aber Strukturen schaffen, die den Bürgern ein freies Handeln ermöglicht, und Hilfsmittel, mit denen dieses unterstützt würde, wäre das kommende Referendum ein für alle tragfähiges Instrument der Demokratie.

Unter diesen Umständen aber laufen wir Gefahr, die Idee Europa aufzugeben aufgrund der fehlenden Flexibilität innerhalb einer gescheiterten Rettungsmission.

In einer Demokratie ist es legitim, Fehler zu machen. Das System sieht dafür Entscheidungsmechanismen vor. Ausführende Personen müssen für falsches Handeln die Verantwortung übernehmen – als Staatsbedienstete. In jedem Falle sind sie per Eid und Grundgesetz dazu verpflichtet, zum Wohle des Volkes zu entscheiden. Beharren sie auf fehlerhaftem Handeln, nur um die eigene Position zu sichern, ist das mehr als nur unsolidarisch. Es ist gegen ihren Eid.

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema in unserem Dossier Europakrise. Das Foto stammt von Magdalena Roeseler und steht unter der Creative Commons Lizenz cc by 2.0.

Ein Kommentar zu “Zeit für das große Ganze: Warum Europa keine Solidarität braucht – sondern Demokratie

  1. Die besondere unvermittelte Berufung auf das Volk und die Feinderklärung an Institutionen oder Fremde ist von je her das Spiel der Demagogen. In diesem Sinne läuft hier nichts anders.

    Das Unsichtbare Kommittee hat viel erhellendes zum hohlen Demokratiefetisch in “An die Freunde” geschrieben.

    Es ist nichts anderes als die Abstimmung über ein uneinlösbares Versprechen.

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