Wiederkehr des Gleichen: Die Wiedergänger der US-Finanzkrise stranden an den Küsten Europas

Globale Geldflüsse wuchern in Schleifen. Das gilt auch für Krisen. Nach der “subprime-Krise” in den USA stranden die Wiedergänger der weltweiten Finanzkrise an den Küsten Europas: unbelehrbare Spekulanten, Banker und Politiker. Berliner Gazette-Autor George Blecher wühlt in seinen Erinnerungen an den US-Vorläufer, deckt die Zirkelproblematik der Finanzen auf und fragt nach den Lektionen der Krise für Europa.

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Viele der Artikel, die ich in den letzten 20 Jahren über die US-Kultur für europäische Publikationen geschrieben habe, hatten diese Aussage: Das hier ist etwas Dummes, das wir in den USA machen. Passt lieber auf, sonst wird jemand in Europa innerhalb der nächsten fünf Jahre auf die gleiche schlechte Idee kommen.

Einige dieser Dummheiten waren die Übernahme von unabhängigen Zeitungsverlagen durch Konglomerate, die keinerlei Interesse am Verlegen hatten; die Kommerzialisierung der weiterführenden Bildung, der Kunst, des Sports und der Medizin sowie der Schwenk von einer Politik des Konsens zu einer Politik des Gegeneinanders. Das geht soweit, dass es in der US-amerikanischen Regierung unmöglich geworden ist, sich auf irgendetwas zu verständigen. Politiker werden zu verzogenen Gören, die einen Kompromiss als ein Zeichen persönlicher Schwäche ansehen.

Brandsatz virtuelles Geld. Beschleunigungsfaktor Technologie

Ich war kein Hellseher: Veränderungen breiten sich immer von den großen Ländern zu den kleineren hin aus. Interessant war, dass durch die Technologie die zeitliche Verzögerung zwischen Ereignissen in den USA und in Europa zu schrumpfen begann: Was vorher viele Jahre brauchte, um den Ozean zu überqueren, konnte jetzt über Nacht sein Ziel erreichen.

Dann kam die US-amerikanische Finanzkrise. Obwohl die US-Presse zu Beginn von ihr überrumpelt wurde – die Europäer behandelten sie mit einem Wink Überheblichkeit – haben eine Menge Leute sie kommen sehen.

Im vergangenen Jahr hat der von mir geschätzte Finanzautor Michael Lewis ein Buch mit dem Titel „The Big Short“ veröffentlicht, in dem er einen Haufen „Querdenker“ von der Wall Street beschreibt – Spekulanten, die zugesehen haben, wie sich die Krise entwickelte: Zuerst waren sie schockiert von der Unsicherheit ungedeckter Hauskredite und den durch Investmentbanker generierten „Derivaten“, dann nutzten sie ihr Wissen darüber, um Reichtümer anzuhäufen.

Krise an den Küsten Europas

Kurze Zeit später kam die Krise aus vergleichbaren Gründen nach Europa. Das war nicht überraschend. Einige Aspekte der Eurokrise erinnern stark an die US-Version. Da wäre beispielsweise die befangene Reaktion auf die Bankenspekulation, welche dazu beigetragen hat, die Krise so stark anzuschüren. Nur die Isländer und die Initiatoren von Occupy Wall Street haben sich erlaubt, richtig sauer zu werden.

Obwohl die EU versucht, Spekulanten ein bisschen zu bestrafen, indem sie deren Gewinn aus griechischen Regierungsanleihen verkleinert (im Gegensatz zu den USA, die Banken für ihre Habgier noch belohnen), wird die Verantwortung für diese Krise von den griechischen Bürger getragen – vor allem von jenen, die im öffentlichen Sektor arbeiten.

Der Banken- und Finanzbereich, in dem viele damit beschäftigt waren auf US-amerikanische Weise das schnelle Geld zu machen, wurde dabei großflächig übersehen. Von den dort tätigen Akteuren muss ganz bestimmt keiner ins Gefängnis. Eine mögliche Ausnahme ist der ehemalige isländische Premierminister, der zur Zeit vor Gericht steht. Europäische Banker haben sich nicht vom Vorbild der US-amerikanischen Gier leiten lassen, sie hatten selbst genug davon.

Zwischen den Abrechnungen

Es gibt aber einen besorgniserregenden Subtext der Eurokrise, der sich von der US-amerikanischen Variante unterscheidet: Die Tatsache, dass Europa begonnen hat sich in zwei unterschiedliche „Klassen“ von Nationen zu teilen: Nicht nur reich versus arm, sondern auch „erwachsen“ (der Norden) versus „kindisch“ (der Süden), verantwortungsvoll versus unverantwortlich, hart arbeitend versus faul. Diese Gegensätze sind nicht nur extrem vereinfachend, sie spiegeln auch den Geist einer früher dagewesenen Klassifizierung nach IQ, Ethnizität, Rasse und Religion – Dinge, über die keiner reden möchte.

Jetzt, wo Merkel und Draghi das Management der Eurokrise übernommen haben und wie strenge Eltern über das Schicksal des armen griechischen Staates richten und Enthaltsamkeit predigen, scheint es der richtige Zeitpunkt zu sein, einige freundliche Worte über das Projekt Europa und dessen Zukunft zu verlieren – eine Perspektive aus 8000 km Entfernung.

Egal, welche Schimpfwörter US-amerikanische Präsidentschaftskandidaten dem europäischen Sozialsystem geben, es ist eine eindrucksvolle Errungenschaft und eine, auf die man stolz sein darf. Wenn ihr wüsstet, wie hart es ist, in den USA zu leben, ohne das Sicherheitsnetz des Sozialstaates! Oder mit wie viel Aufwand Eltern versuchen, für ihr Kind eine gute Schule zu finden, oder genug Geld für eine private Schulbildung zu verdienen; wie viel Zeit US-Amerikaner mit ihren privaten Versichungspolicen verschwenden, und wie viele Millionen Menschen ihre Krankheiten so lange unkuriert lassen bis sie kaum noch ins Krankenhaus laufen können. Die Liste der Beispiele ist lang.

Eine US-amerikanische Sicht auf Europa und seine Krise

Für mich und andere Bewunderer ist Europas Sozialsystem nicht so sehr eine natürliche Universalität, sondern vielmehr ein beträchtlicher Akt des Willens und der Selbstaufopferung.

Die EU basiert auf einer gemeinsamen Grundlage: Der Wunsch eine Gemeinschaft aus Nationen zu bilden, die gewillt sind einander zu helfen. Statt den strafenden, elterlichen Zeigefinger vor das verirrte Griechenland zu schütteln, wäre es besser, wenn die EU ihre Partnernation wieder gesund pflegen durch die Zentralisierung der Verschuldung und das Abschwächen einer Rhetorik der Enthaltsamkeit.

Der zweite Punkt ist vermutlich banal offensichtlich, aber im Angesicht der anti-amerikanischen Gesinnung vieler europäischer Intellektueller mag er nicht einleuchtend klingen. Europa scheint immer noch unter einem Minderwertigkeitskomplex aus der Nachkriegszeit zu leiden, welcher dazu führt, dass es die USA bewundert und ihr ohne guten Grund nacheifert. Das Beispiel der Spekulation der vergangenen 20 Jahre macht dies deutlich.

Haben wir etwas aus der US-amerikanischen Krise gelernt?

Statt die US-amerikanische Blase mit einer gesunden Portion europäischer Skepsis zu betrachten, sind viele Europäer auf den Zug aufgesprungen. Analog zum Ansatz der US-amerikanischen Rechten und Linken, haben viele europäische Länder öffentliche Dienstleistungen privatisiert.

Aber ohne viel Erfolg: Weder erhielten sie große Unterstützung, noch haben sie signifikant Kosten eingespart. Ihr Fehler war, dass sie die USA als europäischen Außenposten ansahen (oder Europa als US-amerikanischen Außenposten!) und nicht als das, was sie wirklich ist: Ein reiches Dritte-Welt-Land mit einer komischen Deckschicht aus Puritanismus.

Vor einigen Jahren habe ich im dänischen Fernsehen ein Interview mit Slavoj Zizek gesehen, in dem er gefragt wurde, ob er gerne Europäer sei. Er antwortete: „Ja klar, es ist der einzige öffentliche Ort in der Welt, an dem man als Atheist frei sein kann.“ Unabhängig von diesem Witz fand ich diese Aussage wichtig. Denn wenn man sich auf der Welt umschaut, sieht man, dass es stimmt.

Zizek hat einen notwendigen Eurozentrismus beschrieben, der nicht versnobt, sondern dankbar ist: Viele der herausragenden europäischen Denkweisen (Humanismus, Aufklärung, Forschungsmethodik etc.) funktionieren am besten in einer Atmosphäre, in der Religion und die Anbetung des Staates nicht erdrückende Kräfte sind.

Den Erfahrungsschatz der Vergangenheit reaktivieren

Warum kann die Eurokrise also nicht jene Möglichkeit für Europa sein, sich einmal genau die eigene Vergangenheit und Zukunft anzuschauen? Um Distanz zwischen sich und das US-amerikanische oder chinesische Modell zu bekommen und ein ruhigeres, humaneres, weniger feindseliges System zu entwickeln, das keiner der beiden Supermächte hinbekommt?

Vielleicht ist das zu viel verlangt von einer Gruppe von Ländern, die noch lernen miteinander auszukommen. Aber ergibt es nicht mehr Sinn, das Solidaritätsdenken wieder aufleben zu lassen, als Europa in verschiedene Klassen zu unterteilen, während die Finanziers nur auf die nächste spannende Idee für volle Taschen warten?

Anm.d.Red.: Aus dem Englischen übersetzt von Anne-Christin Mook; das Foto stammt von Johnny Lucus und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

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