“Man soll Legenden über mich erzählen”

Ich traf Roberto Vincenzi das erste Mal im Oktober 2009, in seiner damaligen Bleibe unter der Williamsburg Bridge in New York. Sein heruntergekommenes Äußeres war befremdlich, aber sein freundliches, warmes Auftreten beruhigte mich. Ich führte folgendes Gespräch.

Mr. Vincenzi, Ihre Kunst bietet Ihnen die Möglichkeit, die Welt zu bereisen und das zu tun, was Sie lieben: Flüchten. Für die Uneingeweihten: Wieso ist das, was Sie tun, Kunst?

RV: Viele von uns haben heute das Gefühl, auf Dinge angewiesen zu sein. Wir haben Technologie, unsere Arbeit und unsere neu vernetzte Welt, und wir glauben daran, dass wir Individuen sind, auf dem Weg zu etwas Größerem. Ich sehe das anders. Für mich verringert dieses System unsere Individualität. Mein Ziel ist es, zu zeigen, wie man sich davon befreit, um uns unsere angeborenen Rechte auf Beweglichkeit und persönliche Freiheit zurückzuholen.

Kosmischer Landstreicher

Manche sagen, Sie seien ein weiser, inspierender Mann. Andere behaupten, Sie seien einfach nur ein überglorifizierter Reisender. Wie reagieren Sie darauf?

RV: Ich bin ein Mann ohne Obdach. Damit meine ich einen Ort, wo ich meine Besitztümer aufbewahren könnte. Ich bin ein kosmischer Landstreicher, der alles bei sich hat, was er braucht – na ja, wie auch immer, jedenfalls bin ich auf jeden Fall ein Landstreicher. Was die Weisheit angeht: Wenn sie damit Biegsamkeit meinen, dann bin ich weise. Ich möchte nicht so starr wie die Schraube sein. Nur Erfahrung führt zu Weisheit.

Viele müssen arbeiten, um zu leben. An einem bestimmten Ort zu bleiben, scheint dafür essentiell zu sein. Wie können Sie diese Konventionen des klassischen “Berufs” hinter sich lassen? Und was sagt Ihre Familie dazu?

RV: Eine gute Frage. Also: Ich habe keine Familie. Die habe ich lange verlassen. Aber mit der richtigen Einstellung kann man aus jeder Situation entkommen und sich in einer anderen zurechtfinden. Ein Beipsiel: Als ich vor zehn Jahren von San Francisco nach Hong Kong floh, wusste ich nur, dass ich das erreichen musste, was ich damals für richtig hielt. Das sind keine Entscheidungen, sondern Impulse.

Kontakt zur Realität

Haben Sie sich jemals gefragt, wie das wäre, einfach im “Gefängnis” zu bleiben?

RV: Ich war, wie viele – wie Sie selbst, vermutlich – ein Gefangenger. Bevor ich mit dem Fliehen anfing, war ich der Gefangene einer großen Finanzfirma in Rom. Ich wurde dafür bezahlt, Knöpfe zu drücken, um dann darüber nachzudenken, welche Knöpfe ich drücken soll. Es war ein gutes Leben, aber jeden Tag das gleiche. Als die Stadt zu vertraut wurde, wusste ich, dass etwas falsch war.

Welches Konzept steht hinter Ihrer Kunst? Und wieso sehen Sie sich als Eskapisten?

RV: Damit das klar ist: Ein Eskapist ist jemand, der sich aktiv ablenkt, um sich von der Realität zu trennen. Aber was ich mache, ist das Gegenteil. Ich glaube daran, dass wir alle die Kraft besitzen, uns mit den uns umgebenen Realitäten in Verbindung zu setzen, sie sogar zu erzeugen. So viele, wie wir wollen.

Am wichtigsten: Wie soll man sich an Sie erinnern?

RV: Als Indivuum. Nicht als Landstreicher. Nein, ich möchte nicht erinnert werden – man soll Legenden über mich erzählen.

Nach diesem Gespräch erzählte mir Vincenzi von seiner nächsten Flucht. Man vermutet ihn auf Kuba, den Winter über. Seitdem betrieb ich intensive Recherchen über seine Identität und seine Vergangenheit. Überwältigende Resonanz erreichte mich aus der ganzen Welt in Reaktion auf die Beschreibung seines Äußeren: 1,75 m groß, langer Bart und langer Mantel, ungewaschen, auffälliger Geruch.

(Anm. d. Red.: Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Brooklyn, New York. Manchmal verfasst er fiktive Interviews mit fiktiven Künstlern.)

10 Kommentare zu ““Man soll Legenden über mich erzählen”

  1. hmm.. kann ich nachvollziehen.. allerdings klingt mir das zu romantisiert… So einfach isses eben dann auch nicht.. und ich weiss wovon ich rede… Was er behauptet, lebe ich seit einigen Jahren….

  2. @Thorsten: Na ja, der Autor führt ja auch manchmal fiktive Interviews mit fiktiven Leuten…wer weiß, wie authentisch das also ist. Viel Glück auf ihrem Weg aber von mir!

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