Ein historisches Gefuehl

Es ist zugegebenermassen aeusserst schwer, im Augenblick eines bestimmten Ereignisses, sofort dessen Wichtigkeit beurteilen zu koennen. Voellig gleichgueltig, ob es sich um den ersten Kuss handelt, oder wohl moeglich den ultimativ letzten Orgasmus gegen Ende der irdischen Fahnenstange. Historische Ereignisse sind aehnlich diffizil zum Zeitpunkt des unmittelbaren Erlebens praezise einzuordnen.

Nicht anders als die letzten Sekunden vor einem schweren Verkehrsunfall. Erst die Nachbetrachtung, das sorgsame Gewichten und Abschaetzen der anschliessenden Dramaturgie des Lebens, verleiht einem bestimmten Datum ein historisches Gewicht. Sei es nun Privat- oder gar Weltgeschichte.

Nach meiner eigenen Erfahrung ist es in juengeren Jahren noch viel schwerer, Ereignisse wirklich einordnen zu koennen. Dadurch zerrinnt die Zeit oft dramatisch fluechtig in des Menschen Haenden. Auch so genannte >beste Zeiten< eines Lebens, werden erst deutlich spaeter zum eigenen Hoehepunkt verklaert. Sogar aeusserst schlechte oder dramatische Zeiten, kuendigen sich hingegen kaum wie in einem stringent inszenierten Hollywoodstreifen an. Kurz bevor man zum Beispiel einem Meuchelmoerder des Nachts zum Opfer faellt, hat man leider nicht den Blick des Kinopublikums auf das eigene Leben. Die erklaerende Totale bleibt stets verwehrt. Die schnellen Schnitte mit Grossaufnahmen blutig-zitternder Haende, samt Schlachtermesser, hektische Schritte im Gewitter zerfetzten Garten und weit aufgerissene, Hass unterlaufene Augen, die uns besessen-boese anstarren, bleiben fuer uns als Opfer stets unbemerkt. Kein keuchend tiefes Atmen, kein Angst einfloessendes Streicherstakkato, das sich in unseren Ohren schrill zum Finale furioso steigert. Im wirklichen Leben schleicht man lustlos im Pyjama zu der durch den Wind aufgestossenen Terrassentuere, aergert sich allenfalls ueber seine eigene Nachlaessigkeit und die damit verbundenen kalten Fuesse. Der erste, noch nicht toedliche Stich des Moerders, trifft immer voellig unvorbereitet. Warum sollte man dies auch erwarten? Ebenso wenig wie man im Restaurant sitzend, den Loeffel bei weit geoeffnetem Mund sinken laesst, weil soeben die ultimative Traumfrau und durch goettliche Fuegung bestimmte, kuenftige Mutter der eigenen Kinder in weiter Entfernung den Raum betritt. Sie wird nicht in perfektem Makeup, mit elegant-schwebendem Gang, in unser Leben hineingleiten. Weder wird sie in leichter Zeitlupe die Haare ueber die Schulter werfen, noch den Blick suchend im Raum schweifen lassen, um dann ausgerechnet auf dem eigenen debilen Gesicht, mit Tomatensuppen umrandeten Mund zu verharren, wie weiland von Zeus Blitz getroffen. Kein Funkeln ihrer extrem weiten Pupillen, auch keine romantischen Streichersaetze, waehrend das Licht Malvefarben besaenftigend erstrahlt. Falls dem doch so sein sollte, deutet das eher auf ein nicht zu unterschaetzendes Drogenproblem. Bei historischen Ereignissen ist es aehnlich. Hat etwa jemand 1618 in Prag unter der Burg gestanden und beim Anblick des Fenstersturzes nur traurig abgewunken, um sofort in der Hradschin-Schaenke traurig zu verkuenden: >Das war es! Dreissig Jahre Krieg Minimum inklusive Pest Epidemien und Hungersnoeten, meine Herren, jetzt geht es erst richtig los!< Beim Lesen der Meldung ueber das Attentat von Sarajevo, mag schon manch ein besonnener Geist im Juni 1914 an Aerger gedacht haben. Aber sah er auch sofort U-Bootkrieg, Giftgasangriffe, Panzerschlachten und Luftbombardements mit Millionen Toten vor seinem geistigen Auge? 1933 beruhigte viele Beobachter weltweit, das der braune Spuk nur ein kurzes Intermezzo in den Wirren der Weimarer Republik darstellen koennte. Italienische Verhaeltnisse sozusagen. Oder gab es Menschen, die spontan am Nachmittag der Machtergreifung des 30. Januar, im Muenchner Buergerbraeukeller Skizzen von Konzentrationslagern und Leichenbergen auf die Serviette kritzelten? Beim holprigen Verlesen einer handschriftlichen Notiz durch Guenther Schabowski am 9. November 1989, war auch nicht sofort klar, das Moskau und Peking kaum zehn Jahre spaeter in der Hand der aberwitzigsten Wildwestkapitalisten sein wuerden, oder? Der 11. September schliesslich, war sicher einzigartig als singulaeres Weltereignis, aber ich haette es nicht fuer moeglich gehalten, deshalb noch acht Jahre spaeter keine Fluessigkeiten und Nagelscheren mit an Bord eines Flugzeugs nehmen zu duerfen. Und noch weniger mich den Folgen der Posttraumatischen Belastungsstoerungen eines Innenministers ausgesetzt zu sehen. Im Nachhinein jongliert die Welt stets laessig mit Jahreszahlen und historischen Erklaerungen. Und so wie erst 1918 in Europa das 19. Jahrhundert endete, fuerchte ich nun im Jahre 2008, das endgueltige Ende des 20. Jahrhunderts erlebt zu haben. Mit all seinen gravierenden Veraenderungen. Darueber hinaus kann in vielen anderen Teilen der Welt erst jetzt das 19. Jahrhundert, samt dramatischer Folgen seiner kolonialen Wirren und abstrus willkuerlichen Grenzziehungen, abgearbeitet werden. Insofern ist fuer mich 2008 ein besonderes Jahr, trotz fehlendem Streichorchester im Hintergrund und schneller Schnitte auf Moerderhaende. Immerhin ein Datum, dessen frische Druckerschwaerze mir noch an den Fingern klebt, waehrend ich diesen imaginaeren, schweren, ledernen Folianten der Weltgeschichte durchblaettere. Das heimliche Spaehen auf zukuenftige Seiten und Zeiten bleibt uns heute leider verwehrt. Werden diese in Baelde eher schnell digital getwittert, auf maximal 1800 Zeichen gebloggt, oder wie ehedem ausfuehrlich auf Papier gedruckt?
Meine subjektive und saekularisierte Top of the Pops 2008, Reihenfolge voellig willkuerlich:

Der kleine Maulwurf und der Schneemann
Lykke Li
Polly Scattergood
FC Barcelona im Herbst
The Knife
Deadmau5
Gerhard Polt >Net vui<
Gianna Michaels
Arthur Cravan
Die Nachtwachen des Bonaventura

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