Diskurstempolimit

Im Prinzip, so scheint mir, ist der Beschleunigungsdiskurs ein strukturverwandtes Phaenomen zur Espressobarschwemme : Hier wie dort nimmt man sich ein bisschen Zeit [fuer ein bisschen Kaffee oder ein bisschen Theorie], um dann sogleich wieder bewegt zu sein, sei es vom Koffein oder dem Theoriehaeppchen, das jeweils inhaerent schon auf modegemaesse Dynamisierung gezuechtet ist.

Beschleunigt ist etwas immer relativ zu einem status quo ante. Ich habe den Eindruck, dass wir in den aufgeregten Debatten um die Trends der jeweiligen Gegenwart seit rund 150 Jahren eigentlich doch immer nur – wenn auch in oft kunstvoll aufgebrezelten Varianten – vom Gleichen sprechen : davon naemlich, wie anstrengend es ist, in der Moderne zu leben. Auch die Beschleunigungsdiskussion bewegt sich in diesem Fragehorizont und sie tut es in vergleichsweise nostalgischer Form. Ach damals, als man noch Zeit hatte…eine vergangene Welt, in die man sich gerne fuer einen kurzen Moment zum Verweilen einlaedt. Anstatt zu fragen, warum wir uns diskursiv derart in Fahrt bringen, dass Beschleunigung als sujet du jour quasi >natuerlich< erscheint, reden wir lieber ueber Beschleunigung. Von null auf hundert in einem affirmativen Halbsatz. DAS ist zu schnell. Da wird hektisch in eine kulturelle Evolution investiert, deren survival of the fittest sich daran bemisst, dass man Taktungsoptimierung zu installieren weiss. Dieser Apparat ermoeglicht es, jene Taetigkeit viel schneller zu erledigen, als es vorher >per Hand<, >per Kopf< >per Brief< oder >per Fussmarsch< der Fall war. Na klar : Das machen wir, dann haben wir nachher mehr Zeit. Aber wofuer ? Nun, erfinden wir neue Apparate, die schaffen noch mehr Zeitgewinn fuer ein vorgeblich unverzichtbares DIESES und ach so dringliches JENES – aber dann, existentiell iPodisiert, stellen wir fest, dass die nicht schon durch Daseinserhaltungsaktivitaeten getaktete Zeit, diese endlich gewonnene freie Zeit, eher bedrohlich als erloesend ist. Es ist doch irgendwie seltsam, ja, den alten Begriff bemuehend nachgerade absurd, was da passiert : Es draengt uns ein enorm maechtiger Vektor aus jeder Gegenwaertigkeit hinaus und verspricht neue Freiraeume fuer das >Wesentliche< im optimierten Morgen [immer ist noch was zu erledigen, zu haben, kann die Zeitressourcen- bewirtschaftung noch gestrafft oder raeumliche Distanz noch schneller nivelliert werden]. All der Stress muendet dann tatsaechlich in einem Moment der Eigentlichkeit, der aber seinerseits noch viel stressiger ist : Zwingt uns der errungene Zeitgewinn doch in die Anerkennung des Moeglichen als [Zeit-]Raum der Selbstverwirklichung, der aber eben auch ein nicht schon fertig strukturierter [Zeit-]Raum ist : Man ist im Gegenteil gefordet, zur selbsttaetigen, nicht durch heteronome Taktzwaenge entlasteter Daseinsgestaltung. All wir Unternehmer unserer Selbst, bevor wir diese Gestaltungsleistung wirklich anzugehen bereit sind, laufen wird doch lieber ein bisschen schneller davor weg. Oder gehen schnell zur Arbeit, ist Daseinserhaltung doch so viel entlastender, was die Zeitorganisationsanforderung angeht. Und nach der Arbeit ? >Na, dann mache ich, was ich will< – Ja, aber wenn ich gar nicht weiss, was ich will? >Ich will so bleiben, wie bin< – Aber wenn ich gar nicht weiss, was es heisst, zu bleiben? Was mache ich dann, wer bin ich dann, wie bleibe ich ? Statistisch findet eines eher nicht [mehr] statt : den persoenlichen Zug anhalten und sich die Zeit nehmen, derer es bedarf, um sich der Frage des Wollens mit aller Konsequenz zu widmen. Heterochronien schaffen. Der Ausstieg als Option ist in dem Masse aus dem Bewusstsein verdraengt worden, wie die Beschleunigung zum hegemonialen Theorem avanciert ist und ihre Rolle als Mythos zu spielen begann . Das einzugestehen will uns freilich nicht recht gelingen, also versuchen wir es weiter und weiter, schneller und schneller, zur Ruhe zu kommen. Eine ganze Unterhaltungsindustrie arbeitet hektisch daran, jeden Freiraum mit Ablenkungsquanten zu fuellen. Zum Zweck, uns die Frage nach der Bedrohung durch Freizeit nicht stellen zu muessen. Denn diese Frage koennte eine grammatische Frage sein, eine, die den selbstverstaendnisermoeglichenden Konsens ansaegt, demgemaess wir schon irgendwie auf einer sinnvollen Spur sind mit der realisierten Herstellung eines Weltinnenraums nach den Kriterien des vernuenftigen Fortschritts und den etablierten Strukturen der Weltorganisation. Daran, nein, daran wollen wir nicht mehr recht glauben: dass letzlich alles in unserer Hand liegt und abhaengt von unserem Wollen des Welt-Machens, von unserem Weltinnenraumgestaltungs- vermoegen, von unserer Lust und Kreativitaet bei der Weltgestaltung durch Mauern, Takte, Preise usw., ganz ohne goettliche Hilfestellungen aber eben auch ohne goettliches Restriktionen. Jaja, wo das Hektische herrscht, wispert die Einkehr auch: Entschleunigt Euch, zaudert, macht Musse. Slowfood, slowcity, slowlife usw. Ich weiss nicht. Fuer meinen Geschmack wurde das Beschleunigungsthema im kulturwissenschaftlichen Modereigen schlichtweg hochgetuned, eignet es sich doch so zeitgeistgemaess und seiner phaenomenalen Qualitaeten nach als kulturwissenschaftlicher Sportwagen fuer dynamische Theoretiker : Wie viele der Protagonisten sind denn selbst Mitglieder des Highspeed-Mobilitaetsjetset, wieviele Theorien sind jetleginfiziert ? Will sagen : Ein bisschen Distanz zur Gegenwart scheint mir eine Ermoeglichungsbedingung dafuer zu sein, dieser Gegenwart gegenueber aufmerksam zu bleiben. Und: ein >Widerstand gegenueber der Gegenwart< [Deleuze/Guattari], der heute darin bestehen koennte, auf der noetigen Zeit zum Nachdenken zu beharren. Und zuweilen findet sich im Rueckblick ermutigendes Potential fuer eine Relativierung diskursiver Dramatik. Daher nehme ich mir gerne die Zeit und lese z.B. in Joachim Radkaus Buch ueber >Das Zeitalter der Nervositaet< [Muenchen : Hanser, 1998]. Diese ins 19. Jahrhundert zurueckschauende Studie hilft dabei, aus dem gegenwaertigem Beschleunigungsautismus ein wenig herauszutreten. Dann vielleicht eine soirée cinéma mit Jacques Tatis >Schuetzenfest< oder Chaplins >Moderne Zeiten<, in denen zu anderer Zeit schon Relevantes zum Thema gesagt wurde und zugleich bedenkenswerte Strategien zur Zeitautonomierueckgewinnung vorgefuehrt wurden.

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