Digitaler Widerstand in Russland: Innovationen der Aktivisten und Gegen-Innovationen der Regierung

Wie sieht die Zukunft des digitalen Aktivismus aus? Um das herauszufinden, braucht man nur den aktuellen Entwicklungen in Russland zu folgen. Neue Tools und Technologien verwandeln sich dort in wirkungsvolle Waffen der Opposition. Auf die Innovation der Aktivisten folgt die Gegeninnovation der Regierung. Oder umgekehrt. Berliner Gazette Autor und Mapping-Aktivist Patrick Meier gibt einen Einblick in Russlands vernetzten Widerstand und beleuchtet die taktische Seite des digitalen Aktivismus.

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Ich habe vor ein paar Jahren die These aufgestellt, dass die verschiedenen Bereiche des digitalen Aktivismus in einem Punkt zusammenlaufen, den ich „digitalen Widerstand“ bezeichne. Die Geschwindigkeit der taktischen Innovationen und Gegeninnovationen auf Russlands digitalem Schlachtfeld ist atemberaubend und steuert auf einen Punkt hin, der diesem Konzept entspricht.

„Krisen können eine fruchtbare Zeit für Innovation sein“, schreibt Gregory Asmolov. Umstrittene Wahlen sind ein guter Ansatzpunkt für Innovation, weshalb auch die Fallstudien meiner Dissertation auf Wahlen basieren. „In den meisten Fällen“, so Asmolov, „entstehen die Innovationen durch die Unterdrückten (im Fall Russlands die Opposition), die versuchen, das bestehende Machtverhältnis durch die Nutzung neuer Tools und Technologien zu verändern. Aber der Staat kann sich auch anpassen und einige der neuen Technologien für den Erhalt des Status Quo nutzen.“

Diese Innovationen kommen nicht von den neuen Technologien selbst, sondern sind Teil ihrer kreativen Nutzung. Mit anderen Worten: Taktische Innovation (und Gegeninnovation) entsteht parallel zur technologischen Innovation. In der Tat kann „Innovation nicht nur in den neuen Tools gesehen werden, sondern in den neuen Protestformen, die durch die Technologie ermöglicht werden.“

Youtube, Live Streaming und Twitter

Taktisch betrachtet zählt das YouTube-Video über Vladimir Putins Verhaftung wegen Betruges und Korruption zu den Höhepunkten der Protestbewegung aus Russland. Das Video ist im Stil einer Nachrichtenmeldung aus dem russischen Fernsehen gemacht und wirkt dadurch realistisch. Nach nur wenigen Tagen hatten sich Millionen von Menschen dieses Video angesehen.

Eine weitere Taktik ist die Nutzung von DIY-Dronen, Live-Streaming mit Mobiltelefonen und/ oder 360°/3D-Fotoinstallationen, um das Ausmaß von Protesten realistischer darzustellen. Eine dritte Taktik ist das Verwenden von Twitter-Usernamen, die denen bekannter Persönlichkeiten ähneln. Michael McFaul, der US-amerikanische Botschafter in Russland, hat den Twitternamen @McFaul. Aktivisten haben den Account @McFauI angelegt, der auf den ersten Blick identisch zum Original aussieht, aber statt einem kleinen „L“ ein großes „i“ verwendet.

Weitere Innovationen innerhalb der taktischen Medienlandschaft Russlands sind Koordinationstools wie die „Liga der Wähler“-Webseite, die „Street Art“-Gruppe auf Facebook und die automobil-basierten Flashmob-Proteste, bei denen in einem Fall mehr als eintausend Autos beteiligt waren, sowie die mit Crowdsourcing erarbeitete Karte der Verstöße, der „Karta Narusheniy“, die Plattformen „SMS Golos“ und „Svodny Protocol“, die Berichte von anerkannten Wahlbeobachtern sammelten, analysierten und grafisch darstellten (mit Hilfe von “bounded crowdsourcing”).

Eine besondere Erwähnung verdient „Soloprotest“ (siehe Bild unten). Die Aktivistin Olesya Shmagun stellte sich hierbei vor Putins Büro mit einem Poster in der Hand, auf dem zu lesen war: „Putin, beteilige dich an öffentlichen Debatten!“ Obwohl sie von der Polizei befragt wurde, wurde sie nicht festgenommen, da Solo-Proteste nicht verboten sind. Nach russischem Recht wird für einen „Protest von einer Person keine besondere Erlaubnis benötigt.“

Obwohl Shmagun nur die Aufmerksamkeit von ein paar Leuten erreichte, die zu diesem Zeitpunkt an ihr vorbei liefen, hat sie die Geschichte ihrer Proteste und einige Fotos auf ihrem Blog LiveJournal gepostet, und auf weiteren Blogs und „Media Outlets“ hat sie viel Aufmerksamkeit bekommen. Asmolov kommentiert: „Diese Geschichte zeigt die Kraft von Manuel Castells ‘eigener Massenkommunikation’. Dank der Präsenz einer Kamera kann der Offline-Protest einer Person online eine (viel größere) Audienz erzielen.“

Von „Soloprotest“ zu „The Big White Circle“

Diese innovative Taktik führt zu einer anderen Herausforderung: Wie schafft man es aus dem einzelnen Protest einer Person eine Großzahl an Soloprotesten zu machen? Eine Antwort darauf könnte die „Big White Circle“-Aktion sein. Die eigens dafür ins Leben gerufene Online-Plattform Feb26.ru hatte den Zweck, viele verschiedene simultane Soloproteste zu koordinieren. Die Plattform „hat es Leuten ermöglicht, an verschiedenen Orten auf der Karte des „Garden Ring Circles“ einzuchecken. Es wurde dann angezeigt, welche Orte bereits belegt waren. Im Gegensatz zu anderen Protesten hatte der „Big White Circle“ kein Organisationskomitee oder einen speziellen Anführer. Dessen Rolle wurde von der Website ausgeführt. Die Seite litt unter DdoS-Angriffen, wurde deshalb geschlossen und vom Provider gelöscht. Einen Tag später gab es sie bereits wieder.

Das Erstellen von speziellen Websites für bestimmte Proteste gehört zu den interessantesten Innovationen der russischen Protestanten. Die ursprüngliche Idee dazu stammt von Ilya Klishin, der für die Großkundgebung der Opposition am 24. Dezember 2011 in Moskau die dec24.ru-Website ins Leben gerufen hat (die es inzwischen nicht mehr gibt). Diese Taktik mag ich deshalb so sehr, weil sie eine komplett legale Handlung nimmt, diese einfach multipliziert und dadurch das Regime zwingt, wahrscheinlich alberne neue Gesetze zu erlassen, deren Absurdität für den Großteil der Bevölkerung eindeutig erkennbar ist.

Bürgerjournalismus hat eine zentrale Rolle dabei gespielt, die „Transparenz der Berichterstattung über Kundgebungen der Pro-Regierungsfraktion zu erhöhen.“ Wie Asmolov anmerkt, „konnten Internetnutzer viele Inhalte zur Verfügung stellen, unter anderem auch hochqualitative YouTube-Berichte, die gezeigt haben, dass viele Menschen auf diesen Kundgebungen für ihre Teilnahme bezahlt wurden oder sogar dazu gezwungen wurden, ohne eine wirklich politische Meinung zu vertreten.“

350 Millionen Euro für „Transparenz“

Natürlich gibt es auch viel „Gegeninnovation“ vom Kreml und seinen Freuden. Ein Beispiel dafür wäre das Video eines Pro-Kreml-Aktivisten auf YouTube, der eine Anleitung für die Manipulation von Wahlbeobachtungsplattformen mit Crowdsourcing gibt. Zusätzlich haben loyale Anhänger Putins einige Taktiken von Oppositionellen übernommen, etwa automobile Flashmobs. Die Regierung Russlands hat auch entschieden, ein Onlinesystem zur Wahlbeobachtung zu kreieren: Aufgrund einer Anweisung Putins hat der staatliche Kommunikationskonzern Rostelecom die Website webvybory2012.ru entwickelt, auf der Bürger die Mehrheit der Wahlbüros (etwa 95.000) am 4. März, dem Tag der Präsidentenwahl, einsehen konnten.

Jedes Wahlbüro war mit zwei Kameras ausgerüstet, eine musste auf die Wahlurne gerichtet sein und zeigte ein allgemeines Bild des Wahlbüros. Nachdem die Wahl beendet war, zeichnete eine Kamera die Auszählung der Stimmen auf. Die Kosten des Projekts betrugen mindestens 13 Milliarden Rubel (etwa 350 Millionen Euro). Viele Blogger haben dieses System kritisiert; es entstehe der Eindruck von Transparenz, wenn in der Realität die häufigsten Wahlverstöße nicht mittels Kameras überwacht werden können (eine detailliertere Analyse gibt es hier). Trotzdem haben die Kameras vielfache Verstöße aufgezeichnet.

Aus der Perspektive des digitalen Widerstands ist das genau jene Reaktion, die man von einem repressiven Regime provozieren möchte. Es wird gezwungen, dezentral zu werden, viel Geld und Arbeitszeit darauf zu verwenden, ähnliche „Technologien der Befreiung“ anzunehmen und in diesem Prozess auf eigenen Websites Wahlunregelmäßigkeiten zu dokumentieren. Mit anderen Worten: Man sollte die Technologien des Regimes aushebeln und sie innerhalb des entstehenden Wahlbeobachtungssystems integrieren, da dies weitere Innovationen hervorbringt.

Ein Aktivist aus Russland hat beispielsweise vorgeschlagen, das Netzwerk der Webkameras durch ein Netzwerk von Mobiltelefonen zu ergänzen. Eine Gruppe Aktivisten hat eine App entwickelt, dass genau das macht. „Die Anwendung Webnablyudatel bietet eine Klassifizierung für alle Wahlverstöße und erlaubt es, diese sofort als Video, Foto oder Bericht zu teilen.“

Die „Was Putin nicht getan hat“- Crowdmap

Putins Unterstützer haben Crowdsourcing allerdings auch sehr innovativ während der letzten Wahlen genutzt. Das Projekt “Was Putin erreicht hat”, basiert auf einer Karte Russlands, auf die jeder Informationen über Putins gute Taten posten kann (siehe Bild unten).

Genau wie die Pro-Kreml-Aktivisten mit den Crowdsourcing Plattformen der Pro-Demokratie-Aktivisten spielen können, so können auch Unterstützer der Opposition mit Plattformen wie dieser Putin-Landkarte spielen. Außerdem hätten Aktivisten auch einfach eine Crowdmap gestalten können und sie „Was Putin nicht getan hat“ nennen können, die zweifellos bevölkerter gewesen wäre als die ursprüngliche Karte von Putins guten Taten.

Offene Fragen

Wie wird das Regime mit der Desinformation umgehen, die durch ihre eigenen Crowdsourcing-Plattformen entsteht? Wird es genötigt sein, mehr Unterstützer zu kaufen, damit ihre Informationen glaubhaft erscheinen? Oder wird es die Berichte eingrenzen und stattdessen „bounded crowdsourcing“ nutzen? Sollte das der Fall sein, wird es dann vor der kommunikativen Herausforderung stehen, überzeugend darzulegen, dass die vertrauenswürdigen Reporter wirklich echt sind?

Pro-Kreml-Aktivisten bringen bereits selbst Innovationen voran, aber wird das kollektive Aktionen der russischen Regierung herausfordern? Die Pro-Regime-Aktion „Putin Wecker“ (Budilnikputina.ru) war eine Taktik, die nach hinten losgegangen ist und Putins Wahlchef dazu bewegte, die Initiative als „eine von Protestierenden organisierte Provokation“ zu bezeichnen.

Es hat schon immer eine interessante asymmetrische Dynamik im digitalen Aktivismus gegeben: Hier die Aktivisten als Vorläufer, die unter Unterdrückung innovativ werden; dort die Regimes, die gegen die Innovation selbst innovativ werden müssen. Wie wird sich diese Asymmetrie verändern, da digitaler Aktivismus und ziviler Widerstand sich immer näher kommen? Werden repressive Regimes dazu getrieben ihre Innovationen gegen den digitalen Widerstand zu dezentralisieren, um immer genau zu wissen, welche Innovation das Lager der Befürworter der Demokratie gerade entwickelt? Benötigt Innovation weniger Koordination als die Gegeninnovation? Wie wird die zukünftige Allgegenwart der Crowdsourcing-Plattformen und Online-Tools für Microspenden und Microzahlungen den digitalen Widerstand verändern?

Anm.d.Red.: Aus dem Englischen übersetzt von Anne-Christin Mook.

2 Kommentare zu “Digitaler Widerstand in Russland: Innovationen der Aktivisten und Gegen-Innovationen der Regierung

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