Was passiert jetzt mit Polen?

Zuerst war er ein Wunderkind, das zusammen mit seinem Zwillingsbruder versuchte, den Mond zu klauen. Dann war er ein engagierter Solidarność-Held, der für das neue, vom Sowjet-Kommunismus befreite Polen kämpfte. Schließlich wurde er Präsident. Sein Regierungsstil: hart, konservativ, ultra-katholisch. Sein Bruder wurde zeitgleich Premierminister. Ein Land, das von Zwillingen regiert wird – eine Geschichte, die eigentlich mit “Es war einmal…” beginnen müsste, war für viele eine hervorragende Vorlage für politische Satire. Nun hat diese Geschichte eine drastische Wendung genommen.

Ich mochte die Mond-Brüder Jarosław und Lech Kaczyński nie besonders. 2007 hatte ich vor der polnischen Botschaft in Berlin stundenlang Schlange gestanden, um ihre Regierung abzuwählen. Ein Teilerfolg: Donald Tusk löste Jarosław Kaczyński als Premierminister ab. Lech Kaczyński war zwar weiterhin Präsident, doch in der polnischen Politik wurde es auf einmal ruhiger. Die internationale Presse berichtete etwas freundlicher, die Situation wurde stabiler und ich gewöhnte mich an den Präsidenten. Und nun ist er tot.

Grausame Ironie der Geschichte

Am 10. April 2010 um 10 Uhr klingelt mein Berliner Telefon. Es ist eine Freundin aus Warschau, die mit einer zitternden Stimme von einer Flugzeugkatastrophe erzählt: alle seien tot, die politische Szene Polens existiere nicht mehr. Ich fahre meinen Rechner hoch, vergleiche die Berichte auf BBC, Spiegel Online und Gazeta Wyborcza. Ein Flugzeug mit einer 87-köpfigen Delegation aus Polen ist auf dem Weg zu einer Gedenkfeier abgestürzt.

An Bord: der Präsident, seine Frau, der Chef der Nationalbank, diverse Vizeminister, Abgeordnete, Mitglieder verschiedener NGOs. Es war die politische Elite des Landes. Die Gesichter, die man jeden Tag im polnischen Fernsehen sieht, die Stimmen, die jeder aus dem Radio kennt. Eine grausame Ironie der Geschichte: Die Delegation war unterwegs zu einer Gedenkfeier für das Massaker von Katyn. 1940 wurde dort Polens Elite von Sowjets ermordet. Lech Wałęsa, ehemaliger Präsident Polens, bezeichnet den Flugzeugabsturz bei Smolensk als “zweite Katyn-Tragödie”.

Trauern im Netzwerk

Ich rufe zwei polnische Freunde in Berlin an. Es entsteht ein Netzwerk der kollektiven Trauer: es gibt ein “uns”. Wir sprechen und schreiben im Plural, wie nie zuvor. Was wird jetzt mit Polen passieren? Freunde und Bekannte schicken mir Emails mit Kondolenzbekundungen. Ich weiß noch nicht genau, wie ich reagieren soll, wie sehr mich die Tragödie persönlich betrifft. Ich packe meine Reisetasche und fahre mit dem nächsten Zug nach Warschau, um dort nach einer Antwort zu suchen.

11 Kommentare zu “Was passiert jetzt mit Polen?

  1. es ist wirklich eine tragödie, was in polen passiert ist. was mich aber bei solchen unglücken immer wieder aufs neue stört ist die hinkehr zum nationalen. wie nach 9/11 wo es hieß: heute sind wir alle amerikaner. so traurig es auch ist, was passiert ist, so darf man sich nicht in das nationale wir-gefühl verirren. wir sind doch inzwischen eine weltgemeinschaft, brauchen wir solche prothesen noch?

  2. Vorsicht apropos “zweite Katyn-Tragödie”: Ein Unfall und ein Massaker sind zwei verschiedene Paar Schuhe, man sollte erst gar nicht damit anfangen sie zusammen anzuziehen.

  3. Vielleicht sollte man nicht in Kategorien wie Märchen, Satire oder ähnliches denken. Der Unfall könnte sonst schnell als Gruselschocker gebrandet werden und vielleicht sogar der Massaker-Lesart in die Hände spielen. Ich bin für mehr Sachlichkeit!

  4. Die Massaker von Katyn wurde zu einem Begriff, den jeder in Polen kennt, auch durch die Tatsache, dass man sehr lange darueber nicht sprechen durfte. Zu den russichen Archiven hat man bis heute keinen Zugang. Symbolik spielt hier also eine grosse Rolle, was man nicht vergessen darf. Krystian, Du hast schon Recht, Wałęsa ist allerdings nicht der einzige, der in diese Richtung argumentiert. Katyn soll verflucht sein (Gazeta Wyborcza gestern) usw.
    Aber mal schauen, vielleicht wird ja das ganze zur Verbesserung der Polnisch-Russischen Beziehungen fuehren (?)
    Maerchen und Satire sind Kategorien durch die ich die politische Landschaft in Polen vor der Katastrophe charakterisiert habe, nicht die Tragoedie selbst.Sachlichkeit: auf jeden Fall ja, aber die Symbolik des Ortes und des Geschehens werden wir hier nicht los.

  5. @zk: warum sabotage? @ karolina: über Symbolik nachzudenken hieße für mich auch über die ideologische (kulturelle und politische) Funktion von Verfluchung u.ä. zu reflektieren: wem nutzt es etwas, wenn Katyn jetzt (zj zweiten Mal) verflucht wird? wie legt sich dieser Fluch qua Schicht im kulturellen Gedächtnis über den ersten Fluch? etc.

  6. @ solfrank: sabotage im sinne eines terroristischen akts, der dem vorfall den status eines massakers verleihen würde

  7. Hi Karolina! Ein toller Artikel und auch ein guter Grund, um nach Polen zu fahren.Aber langsam wird es zu viel. Deswegen habe ich heute BBC Radio 4 gehört. Leider habe ich die Brüderchen nie gemocht. Also kann ich nicht so gut trauern. Der Rest der Opfer, seine Frau ist eine andere Sache. Jetzt wird der Lech ein Held und Märtyrer sein. Ich hatte schon früher von dem patriotischen Zeug genug. Viele Grüße. Kris B.

  8. @ran: Das musste ich auch denken: Das kann doch kein Zufall sein. Andererseits bin ich überhaupt kein Fan von Verschwörungstheorien.

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