Die Söhne Dscherrielands

Als Fluechtlingskind aus der DDR lebe ich seit nunmehr fast 50 Jahren in einer ehemaligen deutschen Kolonie und bin seit ungefaehr 35 Jahren als Deutschlehrer beziehungsweise Ausbilder von Deutschlehrern taetig. Meine Eltern waren damals mit meinen beiden Schwestern und mir in das suedafrikanische Mandatsgebiet Suedwestafrika ausgewandert, das sich in den 1980er Jahren den sperrigen Namen Suedwestafrika/Namibia zulegte und 1990 als Namibia in die Unabhaengigkeit entlassen wurde. Und selbst heute, 16 Jahre nach Erlangung der staatlichen Souveraenitaet, sind viele [nicht nur aeltere] deutschsprachige Namibier leider immer noch gefangen in den nachkolonialen, von Suedafrika gepraegten politischen Ansichten und Wertvorstellungen, so dass man sich als Nicht-mehr-Europaeer aber auch Noch-nicht-Afrikaner nur unter Vorbehalt mit dem neuen Staat identifizieren kann oder will und froh ist, sozusagen als Sicherheitsgarantie, neben der namibischen auch die deutsche Staatsangehoerigkeit zu besitzen.

Wenn deutschsprachige Namibier gegenueber Besuchern aus dem >Dscherrieland< [Deutschland], fuer deren karikierende Umschreibung es eine Fuelle von Ausdruecken gibt wie >Dscherrie<, >Schneeschieber< oder >Schneeovambo<, das >Wellblech-<, >Springbock-< oder >Suedwesterdeutsch< anschlagen, dann reflektiert dies das besondere Selbstbewusstsein der [aelteren] Sprecher und das Verhaeltnis zwischen dem Namibia- und dem Bundesdeutschen. Dieser empfindet den >Dscherrie< als arroganten Besserwisser, der ihm nach wenigen Tagen Aufenthalt Ratschlaege fuer sein Land oder den Umgang mit seinen schwarzen Arbeitern meint geben zu koennen. Er wuerde ihn gern nach Dscherrieland zurueckschicken, aber er >muss einen Plan machen<, also gute Miene zum boesen Spiel, weil der deutsche Tourist mit seinem >Marieba< [Geld] seine Existenz gewaehrleistet. Das ferne Deutschland wird zwar sehr geschaetzt, wenn dabei auch stark maerchenhaft verklaert, daneben aber hat sich ein eigenes Selbstbewusstsein des >deutschsprachigen Namibiers< herausgebildet: Dieser will keinesfalls nach Deutschland zurueckkehren, sondern – >Hart wie Kameldornholz ist unser Land …< – im Land bleiben, seine >Plaas< [Farm] bewirtschaften, seine >Maats< [Freunde] >koeern< [besuchen] und mit ihnen bei >Braaifleisch< [Grillabend] und Bier >kackstohries chesselsen< [tratschen]. Deutschsprachige Namibier wachsen in einem dreisprachigen Umfeld auf, aber nur wenige beherrschen neben Deutsch, Afrikaans und Englisch auch eine der autochthonen afrikanischen Sprachen. Die angefuehrten Beispiele lassen unschwer erkennen, dass der Wortschatz der deutschen Hochsprache um den Wortschatz der anderen zwei europaeischen Landessprachen erweitert wird. Die integrierten Afrikanismen und Anglizismen werden grammatisch eingedeutscht und dementsprechend konjugiert und dekliniert. Die Aussprache bleibt phonetisch hochsprachlich ohne dialektische Faerbung, die afrikaansen und englischen Woerter erhalten unter Beibehaltung der urspruenglichen Aussprache eine deutsche Intonation: >Er leikt besonders das Tiwi wotschen< [Er mag besonders gern fernsehen]. Durch den Wegfall relativer und konjugaler Anschluesse werden Nebensaetze verkuerzt, als Tempi werden wie im Afrikaansen nur Praesens und Perfekt benutzt, die Zukunft umgeht man mit der Wendung: >Ich geh …< und der Genitiv ist in Namibia schon lange tot: >Das ist dem Plaasbuhr seine Alte< [Das ist die Frau des Farmers]. Bei jeder Unterhaltung kann der deutschsprachige Namibier die Dreisprachigkeit und damit den Wortschatz der beiden anderen europaeischen Sprachen bei seinem namibischen Gespraechspartner voraussetzen. Bei deutschen Besuchern ist das jedoch nur bedingt der Fall, und es bereitet dem deutschsprachigen Namibier unverhohlene Freude und Genugtuung, dass sein bundesdeutscher Gespraechspartner hochdeutsche Laute hoert, die er aber nicht versteht. Das Phaenomen >Wellblechdeutsch< hat mehrere Stilebenen: Es wird von den Jugendlichen als eine Art namibisches Szenedeutsch benutzt, es gilt als Bereicherung der deutschen Hochsprache, weil es lexikalische Luecken fuellt und die Bedingungen und das Umfeld eines fremden, anderen Landes erfasst, fuer die keine deutschen Bezeichnungen bestehen - wie z.B. >Vlei< [eine Senke mit Lehmboden, in der sich bei starken Niederschlaegen Wasser sammelt, bis es in der Trockenzeit wieder verdunstet] - und es ist zugleich Sprachverfall, weil die namibischen Sprecher nicht mehr ueber die Faehigkeit verfuegen, alle Lebensgebiete auf Hochdeutsch zu versprachlichen. Deutsch ist somit eine Nischensprache geworden, die in der Familie, mit Freunden und Bekannten, in der Schule und der Kirche gesprochen wird. Dazu traegt auch die namibische Sprachenpolitik ein geruetteltes Mass bei, die Deutsch als Unterrichtsmedium nur bis zum Ende der 3. Jahrgangsstufe zulaesst. Zukunftschancen fuer Deutsch auf muttersprachlichem Niveau in Namibia bestehen nur dann, wenn Elternhaus und Schule die Herausforderungen gemeinsam akzeptieren: Es waere kontraproduktiv, ausschliesslich auf einen korrekten hochdeutschen Sprachgebrauch zu beharren, ohne eine Aufnahme der namibischen sprachlichen Eigenheiten im Variantenwoerterbuch anzustreben und damit dem >Suedwesterdeutsch< das Stigma der Minderwertigkeit zu nehmen. Weiterhin muessten wie bei einem Dialekt die Sprach- und Stilebenen zwischen den hochdeutschen und namibischen Varianten streng getrennt werden, so dass die Sprecher die Faehigkeit erlangen, abhaengig von der Sprachsituation, die geeignete Variante korrekt zu gebrauchen. Leider haben die deutschsprachigen Namibier die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, Deutsch quasi als Kontrastprogramm zum System der Apartheid nach allen Seiten hin zu oeffnen. Rassistisch verbohrt und kurzsichtig weigerten sie sich in den 1980er Jahren, die exklusiv weissen deutschen Staatsschulen allen Kindern Namibias zugaenglich zu machen. Das geschah leider erst nach der Unabhaengigkeit 1990. Heute jedoch sind die ehemals deutschen Staatsschulen wahre Begegnungsschulen, so dass man darin vielleicht ein Modell fuer Deutschland sehen koennte. Die sprachliche Funktion zur >nation building< hat die englische Sprache uebernommen. Das hat eine Umfrage unter Fremdsprachenschuelern an fast allen Staats- und Privatschulen ergeben, die Deutsch als Fremdsprache im Faecherkanon anbieten. Die SchuelerInnen belegen Deutsch keineswegs aus Interesse an der deutschen Sprache und Kultur, vielmehr nehmen sie es billigend in Kauf. An diesen Schulen besteht schliesslich ein weitaus besseres Lehrangebot mit der Moeglichkeit eines Schulabschlusses, der ein Studium an der Universitaet Namibia oder an einer Universitaet in Suedafrika ermoeglicht. Wenn eine multikulturelle Nation, eine >Regenbogennation< in Namibia entstehen soll, dann muessen die heutigen Schueler ihre Erfahrungen an den multikulturellen Begegnungs- und Hochschulen konsequent im spaeteren Familien-, Berufs- und Gesellschaftsleben einbringen. Die aelteren Mitglieder der Gesellschaft lassen sich nicht mehr aendern. Vielleicht koennte das auch ein Beispiel fuer Deutschland werden.

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