Die Kunst, den Faden zu verlieren

Morgens halb zehn in Deutschland. Genauer gesagt: Morgens halb zehn in Eberswalde. Ich bin hier, um an einem Seminar fuer Kulturschaffende teilzunehmen. Da ich selbst aus einer Kleinstadt komme, sehe ich mich mit den noetigen Hinterland-Skills ausgeruestet, um in Eberswalde zu ueberleben. Doch Eberswalde ist viel groesser als erwartet und der Marktplatz [mein Endziel] ist nicht bloss einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt, wie in meiner Heimatstadt. Ich muss mich also nach dem Weg erkundigen. Ein Graus. Nicht nur, weil man sich so in der Provinz sofort als Fremdling outet, sondern auch, weil es, wie schon erwaehnt, halb zehn ist. Um diese Uhrzeit ist vornehmlich eine Bevoelkerungsschicht in der Stadt unterwegs: Renter. In der Naehe der Bahnhofsstrasse, die hier Eisenbahnstrasse heisst, entdecke ich einen aelteren Herren, der ganz nett aussieht. >Wo gehts n hier in die Innenstadt?< frage ich ihn. Er laechtelt mich an und sagt laut: >Hee?< Ich wiederhole meine Frage lauter. Er nickt verstaendnisvoll und milde: >Na ja, wissen sie, ich komme eigentlich nicht von hier. Also seit zwanzig Jahren wohn ich nun schon in Eberswalde, damals neunzehnhundertbarundziebzig…< Ich hoere ungefaehr zehn Minuten lang geduldig zu. Warum sollte er einfach antworten, wenn er auch eine Geschichte erzaehlen kann? Ich muss an meinen Zweitlieblingsschriftsteller Sten Nadolny denken, der auch schon meinte: >Verliere den Faden und du gewinnst die Welt.< Ich entferne mich langsam und unauffaellig und erspaehe den naechsten Rentner, der mir vielleicht weiterhelfen kann. >Entschuldigen Sie, wie komme ich denn zum Marktplatz?< frage ich, gleich in der richtigen Lautstaerke. >Meinen Sie das Einkaufszentrum? Einfach immer den Strippen nach!< ist seine Antwort. Was ist denn mit dem los? Spinnen hier alle? Spricht hier keiner Deutsch? Vielleicht redet der alte Herr ja von irgendeiner Verschwoerungstheorie, laut der wir alle nur Marionetten sind, die an Strippen haengen oder so. Dann faellt bei mir der Groschen: Die Busse fahren hier an Oberleitungen, so wie andernorts die Strassenbahnen. Und da die Busse alle den Marktplatz passieren, muss ich nur den >Strippen< folgen und komme irgendwann zwangslaeufig in die Innenstadt! Wer kann hier eigentlich kein Deutsch? Vielleicht gehen die Alten ja ganz anders mit der Sprache um. Sie nehmen sich die Zeit, auszuschweifen oder in Raetseln zu sprechen. Koennte nur unguenstig sein, wenn man zum Beispiel danach fragt, wo der naechste Feuerloescher steht.

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