Der Tisch als Text

Der Tisch in der Kueche meiner Eltern ist aus Holz. Es ist ein weiches, helles Kiefernholz, auf dem jeder leicht seine Spuren hinterlassen kann. Mit dem Ellbogen, der Kaffeetasse oder dem Brotmesser. Diese Spuren hinterlaesst man ungewollt und meist nicht ohne sich Aerger mit meinem Vater einzuhandeln. Der Tisch ist nicht wertvoll, es ist ein einfacher Ikea-Tisch in O-Form – der erste West-Einkauf meiner Eltern, gleich nach dem Opel Kadett.

Der Tisch macht die Kueche zu einem Ort, an dem man sich gern aufhaelt. Um beim Tee zu quatschen, den Weihnachtsabend zu verpokern oder spaet in der Nacht noch eine Stulle zu verdruecken. An jenem Tisch sitze ich nun wieder und mir fallen tausend Tischgeschichten ein. Vor ein paar Jahren habe ich hier meinen Bruder mit dem Gedanken ueberrascht, dass man die Welt auch als Text verstehen und somit lesen kann. Mein Studium hatte gerade angefangen und ich war ganz im Taumel, hatte das Gefuehl, die Wahrheit mit Loeffeln zu fressen.

Wenn ich nun mit der Hand ueber den Tisch streiche, ertaste ich eine ganz spezielle Variante der-Welt-als-Text- Sache: Diesen Tisch hier, kann ich naemlich lesen. Jeder Einkaufszettel, jeder Brief, jede Zeugnisunterschrift hat sich in den Tisch eingekerbt. Jedes Stadt-Land-Fluss-Match hat seine Spuren hinterlassen. Tausend Buchstaben wurden durchs Papier hindurch gedrueckt und vermischten und schichteten sich. Auch wenn meine Finger die einzelnen Worte nicht mehr ausmachen koennen, erzaehlen die vielen kleinen Huegel und Kerben soviel wie ein Roman.

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