Der Tag des Klischeefalls

Am 9. November 1989 sass ich tief im Westen der Bundesrepublik vor dem Fernseher, mit einem grossen Fragezeichen im Gesicht. Mein persoenlicher Mauerfall war ein rein telemedialer, denn vor diesem Datum verband mich mit dem Osten Deutschlands herzlich wenig, um nicht zu sagen: Nuescht! Die Teilung Deutschlands kam in meiner Jugend einem stahlbetonierten Naturgesetz gleich, wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht, schliesslich >hier< und >drueben<. Da es unserer rheinischen Familie seit jeher an jeglichem verwandtschaftlichen Bezug zu irgendwelchen Gebieten oestlich der Wupper gebrach, war mein Interesse in jenem Herbst rein intellektueller Natur.

Kein betrunkener Onkel fabulierte auf Familienfeiern von >Sachsen, wo die schoenen Maedchen auf den Baeumen wachsen<, es gab auch keine gebeugte Oma im Kittelschurz, mit kaschubischen Sehnsuechten und Schreckensgeschichten vom Treck ueber die zugefrorene Ostsee. Fehlanzeige. Ich wuchs in einer karnevalistisch-unbekuemmerten Diaspora ohne jeglichen Ost-Bezug auf. Von daher sei es mir nachgesehen, das ich an besagtem Novemberabend diesem Ereignis ohne persoenliche Anteilnahme beiwohnte. Fasziniert und mir bewusst, Zeuge eines grossen historischen Ereignisses zu werden, war ich durchaus. Aber es wollte nicht recht ran an mein Herz. Ich kannte niemanden dieser merkwuerdig gekleideten Menschen, die euphorisiert auf jener Mauer standen. Meine Eltern schickten zwar seit Jahren Pakete in die >Zone<, an eine Familie mit Sohn aus Zwickau, die sie, als ich 2 Jahre alt war, in einem Bulgarien Urlaub kennengelernt hatte. Sagten sie. Doch mir war das voellig fremd. Das waren Menschen, die zu Weihnachten seltsame Dinge aus einem seltsamen Land schickten, ueber die man sich zu freuen hatte. Schon aus Hoeflichkeit. Beigelegt waren oft falsch-farbige Fotografien, die einen Jungen zeigten, der mit meinem abgelegten, hellblauen >Yps<- T-Shirt, auf meinem geliebten, alten Bonanzarad sass. Fuer mich persoenlich ein immer eher etwas erschreckender Anblick. Politisch war mir klar, dass die bislang schwergewichtig dominierenden Blockgebilde im Niedergang begriffen waren und grosse Veraenderungen ihre rosig-vorwitzige Nase zur Tuere herein steckten. Doch eine solche Rasanz des Zusammenbruchs hielt ich nicht fuer moeglich. Gerade in der DDR hatte ich ein groesseres Beharrungsvermoegen und zumindest vorgeschobenes Festhalten an einem >Sozialismus mit menschlichem Antlitz<, noch eher als in anderen Ostblockstaaten, erwartet. Also einer Art dritter Weg wie in China, wo man die Uhr ganz langsam einfach mal in vormarxsche Zeiten zurueck dreht und dem Manchester Kapitalismus froehlich froent. Ich dachte, die Menschen jenseits der Elbe glaubten weiter ein wenig an ihren Traum der Gleichheit und Freiheit in Datschen und FKK Urlauben an der Ostsee. Doch jubelten sie dem grossen, dicken, reichen Mann aus der Pfalz zu, der doch sonst nur noch seltsame Suedseeinselvoelker wie in Tonga begeisterte. Als ich Tage spaeter wieder zu meinem Studienort ins Zonenrandgebiet fuhr, begegneten mir aus Osten dutzende knatternder Zweitakter mit winkenden, hupenden, froehlichen Menschen. Das freute mich natuerlich ungemein, so wie ein gewonnenes Fussball-WM-Spiel Wildfremde auf der Strasse gemeinsam begeistert. Gott − oder wem auch immer − sei Dank, hatte ich ein Jahr zuvor noch Ost-Berlin via Auto und Transitstrecke besucht und war dabei im Winter in den Genuss einer vollen Ladung DDR-Atmosphaere gekommen. Neblig, kalt und grau waren die Tage und Naechte, sie bildeten eine fantastische Kulisse fuer den Besuch von diversen Grenzuebergaengen. Alles war so, wie es sich James Bond Drehbuchautoren immer vorstellten. Eine sehr merkwuerdige Welt. Aber interessant. Ich beschloss, wieder zu kommen und alles genau zu betrachten, doch zu spaet! Scheiss hektische Weltgeschichte! Bei meinem naechsten Besuch existierte die DDR nur noch auf dem Papier. Ich sah die vormals Furcht einfloessenden und einst geheimnisvollen Punkte Ostberlins nun von der anderen Seite der Mauer: Keine gigantische russische Atomraketenbasis mit ominoeser Technik im 50er Jahre Science-Fiction Retro-Design! Enttaeuschend! Heutzutage kenne ich mich im Ostteil der Stadt besser aus als im Westen. Man koennte mich als Entfuehrungsopfer nackt und gefesselt in Hohenschoenhausen nachts aus einem Kofferraum auf die Strasse werfen, ich faende sofort nach Hause. In Wilmersdorf hingegen waere ich fuer immer unwiederbringlich verloren. Mein Berliner Freundeskreis ist naturgemaess mit Zugezogenen durchsetzt, oder Nachfahren eben jener einstmals winkenden Zonisten. Die meisten Westberliner hingegen habe ich haeufig als 1989 zu Tode erstarrte Provinzler empfunden, die immer noch nicht ueber den Tod von Harald Juhnke hinweg gekommen sind. Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit, denn diese wiederum sehen in mir nur eine Art Sprachbegabten Ostfranzosen vom Rhein. Auch zwanzig Jahre danach...

4 Kommentare zu “Der Tag des Klischeefalls

  1. also ich finde das sehr nachvollziehbar und nicht so “wessi”-mässig, habe viel wiedergefunden, was mich auch bewegt hat damals danke dafür!

  2. Hmmm, ich bin nun einaml einer dieser ignoranten Ostfranzosen…quest-ce tu veut faire?

  3. Kann ich als im Zonenrandgebiet aufgewachsener Waldhesse nur bestätigen – ähnliche Gefühle durchwandern mein Herz! Aber lieber Herr Offer… lassen Sie mir bloss den Harald in Ruhe!!! And by the way…
    Je t´aime!! ;-)
    Cheers mate – Brunó

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