Der lange Arm des Real Life

Der Bankraub und die neuen Informations- und Kommunikationstechniken befluegeln die Phantasien der Menschen und finden jeweils mannigfaltigen Niederschlag in der Populaerkultur. In diesem Feld forschen Kulturwissenschaftler aus den Nachfolgedisziplinen der Volkskunde. In einer solchen Perspektive liegen beide Themen naeher beieinander als es zunaechst den Anschein hat. Darueber hinaus finden sich in beiden Themenfeldern zahlreiche Erzaehlungen und Mythen. Jene sind sowohl Gegenstand von volkskundlicher Bankraubforschung als auch kulturwissenschaftlicher Technikforschung. Ausserdem spielt die >richtige< Techniknutzung sowohl beim Schraenker [Tresore und Schneidbrenner] als auch beim ordinaeren Bankueberfall [Waffen und Fluchtauto] sehr oft eine entscheidende Rolle.

Ich wurde am Tuebinger Ludwig-Uhland-Institut fuer Empirische Kulturwissenschaft ausgebildet, das in der Volkskunde den >Abschied vom Volksleben< vorantrieb. Hier wurde am entschiedensten die Idyllisierung des Laendlichen einer rueckwaertsgewandten Wissenschaft ad acta gelegt. Zugleich gerieten Arbeiter, Migranten oder Geschlecht als Kategorie kultureller und sozialer Strukturierung in den Blick. Das Tuebinger Institut wurde bereits Anfang der 1980er Jahre als das bundesdeutsche Pendant des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies [CCCS] gehandelt. Es entwickelte sich hier eine Form von ethnografischer Forschung, die Kultur und Lebensweise verknuepft und in der ein Blick auf die unteren Gesellschaftsklassen im Mittelpunkt steht. In den 1970er Jahren entstand etwa eine Form der Fernsehennutzungsforschung, die eine grosse Naehe zu den Cultural Studies aufwies. Denn sie untersuchte nicht nur das technische Artefakt oder die Medieninhalte. Sondern betonte zugleich die sozialen und kulturellen Praktiken der Nutzer. In dieser Tradition wurde auch die Untersuchung >Zur Transformation der Alltagsbeziehungen von InternetnutzerInnen< [1997-1999] durchgefuehrt - eine Studie, an der ich massgeblich beteiligt war. Dabei interessierte mich, ob und welche soziokulturellen Veraenderungen sich mit der Nutzung von Internet im sozialen Nahbereich [Familie, Partner, Freunde etc.] ergeben. Also in welcher Weise Internetnutzer bestehende soziale Kontexte einbeziehen oder gar hinter sich lassen. Als zentrales Ergebnis kann die Rueckbindung solcher Nutzungen in bestehende Alltagspraxen zu Protokoll gegeben werden. Naemlich im Sinne einer Intensivierung oder Effektivierung bestehender sozialer Beziehungen. Netznutzung macht fuer die Nutzer Sinn, wenn Online-Kommunikation das Leben offline verbessert und unterstuetzt. Es geht also nicht um die Substitution bestehender sozialer Beziehungen, sondern um ihre Organisation und Reorganisation. Online passiert nicht soviel anderes als offline. sGleichzeitig wurde deutlich: Das Internet veraendert durchaus auch alltaegliche soziokulturelle Handlungs- und Kommunikationsmuster. Der Aktivismus und der soziale Protest der globalisierungskritischen Bewegung sind beispielsweise ganz entscheidend von den Moeglichkeiten des Internet gepraegt. Seine Nutzung hat dazu beigetragen, die soziale Frage erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Aber eben nicht zur Abschaffung des Kapitalismus gefuehrt. Die Ergebnisse dieses wie anderer meiner Projekte dementieren kulturpessimistische Aengste wie technikeuphorische Hoffnungen. Das heisst, dass ein neues medienkulturelles Artefakt nicht automatisch eine veraenderte Alltagspraxis oder eine Erweiterung des sozialen Nahbereichs >bewirkt<. Auch wenn ihre technischen Spezifika ein Enablingpotenzial haben. Diese Form von kulturwissenschaftlicher Technikforschung zeigt, dass die Erforschung des Internet ohne das >Real Life< schlechterdings zu keinen sinnvollen Ergebnissen fuehren kann. Sie behauptet zudem, dass auch die Zukunft des Internet ohne eine historische Perspektive nicht zu verstehen sein wird. Daher ist es auch nur scheinbar paradox, wenn ich behaupte: Ueber die Zukunft des Internet kann nicht ohne das Wissen ueber die Geschichte der Nutzung von Medieninnovationen vernuenftig nachgedacht werden. Insofern spielt fuer mich die Kategorie Geschichtlichkeit fuer die Beschaeftigung mit der Zukunft eine ganz entscheidende Rolle. In diesem Sinne verstehe ich auch meine Mit-Herausgeberschaft beim Online-Journal kommunikation/at/gesellschaft. Es erkundet sowohl die Nutzung[en] alter wie neuer Medien und zwar mit Blick auf alle Formen menschlicher Praxis der handelnden Subjekte. Insofern erachte ich es inzwischen immer mehr als sinnvoll, das Internet nicht fuer sich zu untersuchen. Aus arbeitsoekonomischen Gruenden oder aufgrund bestimmter Forschungsprogramme wird man immer wieder gezwungen - wider besseres Wissen - die Komplexitaet der Entgrenzung von online und offline durch entsprechende Forschungsdesigns zu dementieren. Ich misstraue aber den Ergebnissen von Studien, die z.B. >das Weblog< untersuchen. Aufschlussreicher und damit auch zukunftsweisender ist eine andere Herangehensweise: Beispielsweise eine, die den Zusammenhang von weiblicher Sozialisation, jugendlichen Freizeitmustern insgesamt und den Rueckgriff auf das Kulturmuster Tagebuchschreiben via Weblog-Medienformat zu erforschen versucht. Dass hierbei der gleichberechtigte Einsatz bzw. der Methodenmix von qualitativen wie quantitativen Verfahren von Vorteil ist, sei eigens hervorgehoben. Je selbstverstaendlicher die Internetnutzung wird, desto wichtiger ist es, den Zusammenhang der Vermischung zwischen online und offline zu erforschen. Je alltaeglicher das Internet wird, umso mehr wird es fuer mich als fein saeuberlich abgrenzbarer Forschungsgegenstand obsolet. Da es in Zukunft nicht mehr >die< Internetnutzung geben wird, erscheinen mir Versuche eigens Internet-Wissenschaften wie etwa >Cyber-Anthropologie< zu begruenden, sachlich nicht gerechtfertigt. Die Erforschung von Internetnutzungen wird kuenftig vor allem im Kontext spezifischer sozialer Gruppen oder soziokultureller Praxen Sinn machen. Das Internet wird in dem Masse ein Forschungsfeld bleiben, insoweit es fuer die alltaeglichen Praxen von Bedeutung ist. Schliesslich verstehen sich die Nachfolgedisziplinen der Volkskunde [meist: Europaeische Ethnologie] allesamt als historisch argumentierende Alltagswissenschaften.

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