Der Ekel vor dem Bleiben

Theater ist eine zeitbasierte Kunst, Vergaenglichkeit und Aktualitaet sind die beiden Koordinaten, zwischen denen sich die Darstellende Kunst aufspannt. Der wahre Segen dieses Metiers ist die Vergaenglichkeit, denn sie alleine erlaubt es, radikal bis zum Aeussersten zu sein. Die Vergaenglichkeit loest die Kompromisse anderer Kunstgattungen in Zeit auf und oeffnet einen leeren Horizont.

Ich wuerde es nicht aushalten, als Architekt zu arbeiten. Das Handwerkervereinshaus, in dem sich die Sophiensaele befinden, ist ueber hundert Jahre alt. Hundert Jahre! Was fuer eine fuerchterliche Aussicht! Was fuer ein Horror aus Zweckrationalitaet, Beharrlichkeit und ekelhafter Bestaendigkeit. Kein Fehler, keine falsche Hoffnung, keine temporaere Begeisterung wird verziehen – 100 Jahre Ueberpruefbarkeit. Wie soll sich in so einem Metier politisches Denken, Utopie formulieren koennen? Nichts ist rueckstaendiger als die Bestaendigkeit. Nichts, was bleibt, ist etwas wert!

Die Vergaenglichkeit und Aktualitaet des Theatralen erfordert die Entscheidung zur Anwesenheit. Sie ist ihr wahres Potential: Theater koennte nicht hier oder dort oder jetzt oder spaeter oder mit Publikum oder auch ohne Publikum passieren, sondern nur hier, jetzt und mit. Theater ist Entscheidung. Anders als das Museum, dessen Kommunikationsmodus das Flanieren ist, oder das Buch, dessen Modus die Versenkung ist, erfordert das Theater die Hinwendung, Hinbewegung. Der Theaterbesuch ist die Aufloesung im Kollektiv und ein Akt der Unterordnung unter eine temporaere Autoritaet. Theater ist immer autoritaer.

Damit Theater aber gerade nicht Passivitaet und Fremdbestimmung foerdert, muss es seine Beschraenkungen jederzeit ausstellen: nur hier, nur jetzt. Diese Autoritaet ist unzuverlaessig, sie ist nicht vertrauensvoll. Sie verraet jede Gefolgschaft beim Schlussapplaus. Sie ist Show, um nicht zu sagen eine grosse Luege. Und darin ist diese Kunst, die autoritaerste der Kuenste, Kritik von Autoritaet.

Theater ist permanent im Verschwinden begriffen, aber dieses Verschwinden darf nicht mit Virtualitaet verwechselt werden. Virtualitaet zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie zwar fluechtig, aber ohne Verfallsdatum sein will. Potentiell unendlich ist die virtuelle Welt alterslos und polemisiert damit gegen die Logik des Entstehens und Verschwindens der materiellen Welt. Theater dagegen beharrt gerade auf seiner Zeitlichkeit.

Jede Inszenierung hat ihre Zeit und ihren Ort und sagt damit etwas ueber diese Zeit und diesen Ort. Aber da sie auch immer wieder neu auf- und ausgefuehrt wird, hat sie die Moeglichkeit, mitzuwachsen, aelter und besser zu werden und gleichzeitig immer den Zeitpunkt ihrer Entstehung mitzureflektieren. In der Auffuehrungspraxis ruecken Vergangenheit und Gegenwart auf eine Naehe zusammen, wie sie nur im Theater moeglich ist.

Das Schnelle, Fluechtige des Theaters stellt sich in der konkreten Arbeit als Segen und als Fluch dar, und das wird nirgendwo so deutlich wie in der so genannten >Freien Szene<. Es gibt kaum eine ernstzunehmende historische Perspektive in der Performance Art und im zeitgenoessischen Tanz. Nur sehr langsam und muehsam entwickelt sich ueberhaupt so etwas wie ein Bewusstsein der eigenen Leistungen, der eigenen Produktionsgeschichte. Es geht mir dabei nicht um eine Fetischisierung der Auffuehrung als Werk oder um Kanonbildung, sondern um historisches Bewusstsein, ein Bewusstsein, dass sich gerade an der Vergaenglichkeit des Theaters schaerfen kann. Aber die momentane Situation der Freien Szene ist ein staendiges Weiterproduzieren, ein permanenter Dauerlauf, bei dem Inszenierungen lediglich Checkpoints am Wegesrand bilden. Der Rueckblick, die Reflektion auf bereits Gemachtes, die Umformulierung alter Fragestellungen und Praxen, wird im innovationsgeilen Festivalbetrieb und Foerdersystem nicht geduldet. Gerade hier muss eine selbstreflexive und ernsthafte Produktionstaetigkeit ansetzen: Moeglichkeiten fuer die Herausbildung von historischem und damit formalem Bewusstsein am eigenen Gegenstand; und zwar im Beharren auf seiner Fluechtigkeit. Denn das wuerde bedeuten, das Theater als Form wirklich ernst zu nehmen!

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