Der Beat des Ozeans

Offenbar teilen wir alle grundlegende Erfahrungen mit Wasser: Schon vorgeburtlich schweben wir im intrauterinen Wasser, und moeglicherweise sind unsere Wahrnehmung, sowie unsere elementaren Sehnsuechte davon gepraegt. Die symbiotische Verbindung mit dem muetterlichen Koerper ist eine Grunderfahrung, vielleicht auch ein Modell fuer spaetere soziale Beziehungen, die unsere Sehnsucht nach Gemeinschaft unbewusst >wiederfinden< will.

Gleichwohl scheint sowohl historisch wie aktuell das Imaginaere der Gemeinschaft eng mit der Metaphorik des Wassers verbunden zu sein. Damit geht eine unaufloesliche Ambivalenz einher: Im >Haifischbecken< der Gesellschaft ist diese Gemeinschaft nur begrenzt realisierbar und eine symbiotische Gemeinschaft ist sowohl in Eltern-Kind- wie auch in Liebesbeziehungen nur zeitweise moeglich oder wuenschenswert. Das was Freud einmal die >ozeanischen Gefuehle< nannte, birgt die Gefahr des Verlusts des >Eigenen<, evoziert Aengste vor Aufloesung von Identitaet. Das politische Imaginaere der Gemeinschaft ist in der Moderne haeufig mit Bildern und Metaphern des Wassers, des Meeres, des Fluessigen durchsetzt. Diese Bildlichkeit steht sowohl fuer die Sehnsucht nach symbiotischer Gemeinschaft wie fuer die Unsicherheit des Sozialen und den Verlust von Fundierungen fuer die gesellschaftliche Ordnung. Gefahren fuer die menschliche Gemeinschaft kommen haeufig ueber das Wasser: Nosferatu, der Vampir, kommt in Murnaus Stummfilm von 1922 mit dem Boot in die staedtische Gemeinschaft, der er Tod und Zerstoerung bringt. Dagegen steht das Phantasma der Kontrolle: die Kartographierung des Meeres, das seismographische Aufzeichnen seiner unterirdischen Bewegungen und Stroemungen suggeriert Sicherheit gegenueber ploetzlichen Ueberschwemmungen und Katastrophen, wenn das Wasser ueber die begrenzenden Ufer tritt, die den geometrisch geordneten Raum der sozialen Gemeinschaft vor dem konturlosen Raum des Wassers schuetzen. Seit dem spaeten 19. Jahrhundert findet sich die Gleichsetzung der sozialen Masse mit dem konturlosen, Fluessigen, oder auch dem Weiblichen, das sich ueberkommenen Verfahren sozialer Kontrolle entzieht. Der Massentheoretiker Gustave Le Bon sah in diesem neuen politischen Kollektivsubjekt das Gegenmodell zur politischen Oeffentlichkeit, wie sie seit der Aufklaerung verstanden wurde. Waehrend hier die Buerger ueber rationale Entscheidungen einen Konsens herstellen sollen, wird die Masse vom Unbewussten, von Gefuehlen und Stimmungen gelenkt und ist rationalen Argumenten gar nicht zugaenglich. Die Masse reagiert auf Bewegungen, auf den Rhythmus [so behaupteten die italienischen Soziologen und Kriminalisten Sighele und Rossi im fruehen 20. Jahrhundert, der Kollektivkoerper der Masse synchronisiere sich ueber den Rhythmus der Atmung]. Kennzeichen des Meeres ist der Rhythmus, eine elementare Naturerscheinung, die es mit allem Lebendigen, auch mit dem Menschen teilt. Der Mensch ist ein >rhythmisches Tier< konstatierte in den 1930er Jahren der franzoesische Ethnologe Marcel Mauss, der die >Koerpertechniken<, [auch die des Schwimmens] zum Gegenstand der Sozialforschung erhob. Er wollte darueber die Tiefendimension der Gesellschaft erkennen, jenen unbewussten sozialen Kitt, der Gemeinschaften jenseits rationaler Uebereinkuenfte zusammenhaelt. Im Rhythmus des Meeres findet sich andererseits eine Vorstellung von Gemeinschaft versinnbildlicht, die Bewegung [spaetestens seit der Moderne ein Sinnbild der Geschichte und des Sozialen] mit einer >natuerlichen< Ordnung verbindet. Verschiedene Formen der Rhythmisierung gehoeren zu den Koerpertechniken politischer Gemeinschaftsstiftung in der Moderne: Von den Sprech- und Bewegungschoeren zu Massenformationen, sucht man auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums die Erfahrung der politischen Gemeinschaft sinnlich und koerperlich erfahrbar zu machen, eine Kommunikation jenseits der Sprache, die ueber Bewegungen, Gesten, Atem und Vibrationen Resonanzen ausloest. Die >Gesinnung ins Schwingen bringen< nannte das ein Zeitgenosse. Die Synchronisierung der Einzelrhythmen zum bewegten Gemeinschaftskoerper steht fuer den Traum der Aufloesung der Einzelwillen im >grossen Ganzen<, eine Utopie des >Eintauchens<, deren politische Problematik sich in Nationalsozialismus und Stalinismus erwies. Dennoch bleibt die Sehnsucht. Auch in aktuellen Beschreibungen unserer Lebensformen finden sich haeufig Bilder, die mit der Bewegung des Meeres verbunden sind, der Verlust stabiler Referenzen bedeutet auch den Verlust ganzheitlicher Utopien von Gemeinschaft, die man der >Gesellschaft< entgegenstellen koennte. Waehrend die Moderne noch an Gegenentwuerfe glaubte, die im Wesentlichen aus der Negation der bestehenden Ordnung entstanden, haben wir das Vertrauen in derartige Utopien [auch in die des Koerpers] verloren. Kein kollektives Subjekt des Widerstandes ist mehr auszumachen eher diverse >Widerstaendigkeiten<, und zeitweilige Gemeinschaftsformen. Vielleicht ist das, was frueher stets als Mangel angesehen wurde, in dieser Situation eine Chance: die >Sprachlosigkeit< des Tanzes und Performance, ihre Fluechtigkeit, hatte verhindert, dass sie fuer das kulturelle Gedaechtnis moderner europaeischer Gesellschaften relevant wurden. Bewegungskulturen als privilegierter Zugang zu aktuellen Prozessen der Umstrukturierung kollektiver Lebensformen, insbesondere der Umstrukturierung von Sinnes- und Gefuehlskulturen. Denn in Bewegungen, Gesten und im Rhythmus sind Sinnes-, Gefuehls- und Wahrnehmungserfahrungen gespeichert, ein zum Teil vorbewusstes Sinneswissen >unterhalb< oder jenseits der bewussten Kultur und ihrer Uebereinkuenfte. Pina Bausch sprach einmal von den >Zwischengefuehlen<, von jenem in den ueberkommenen Codes der Wahrnehmung schwer artikulierbaren Erfahrungen, die meist an Gesten und Bewegungen gebunden sind. Dazu bieten Theater, Tanz oder Performance einen Zugang: Sie koennten Bruchstellen markieren, Einsatzpunkte fuer neue Formen von Gemeinschaftlichkeit erfahrbar machen. Offenheit, der Wechsel von Ungleichgewicht und voruebergehender Stabilitaet, die positive Rolle von Fluktuationen - moeglicherweise finden sich hier Ansaetze fuer neue Formen von Gemeinschaft jenseits totalitaerer Festschreibungen.

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