Der anregende Opportunist

Er könnte der unbeliebteste Außenminister in der Geschichte der Bundesrepublik werden: Guido Westerwelle wirkt anregend und polarisierend. Das ist aber noch lange kein Qualitätsbeweis.

Ein wohlhabender, sozial und gesellschaftlich gut integrierter Karrierist wie Westerwelle, der aus einer soeben erlangten Machtposition zuerst auf sozial Schwache zeigt und in diesem Zusammenhang den Begriff der “Dekadenz” verwendet, muss seine Homosexualität entweder verdrängt, neutralisiert oder übersehen haben. Oder er hat einfach ein unterentwickeltes Bewusstsein zur Geschichte der Verfolgung Homosexueller.

Eine schlechte Strategie

Das Wortpaar schwul-dekadent wurde lange Zeit von der Mehrheit zusammenassoziiert, um Schwule zu diskriminieren. Oscar Wilde kam wegen “Dekadenz” ins Zuchthaus; die Nazis sprachen von “Entartung” und von “Dekadenz”, um vermeintliche Abweichung der Normativität zu markieren. Gegen diese Stereotype hat die Schwulenbewegung seit Jahrzehnten gekämpft.

An diesem Kampf hat sich Guido Westerwelle nie beteiligt, im Gegenteil: mit CDU und FDP stimmte er – noch als “bekennender Junggeselle” – 2001 gegen das rotgrüne Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Durch den unbedachten Einsatz der “spätrömischen Dekadenz” hat Westerwelle sozusagen sich selbst “vergessen”.

Dies führt dazu, dass er plötzlich ganz im Mittelpunkt steht – zu seiner großen Überraschung auch seine Sexualität.  Sie wird von der langjährigen, bis ins Jahr 2004 gehüteten “Privatangelegenheit” überraschend zur “Staatsangelegenheit”. Das ist sein Fehler, ein schwerer strategischer Fehler.

Fortschrittliche Opferhaltung?

Dass er sich nun als Opfer von Homophobie und Schwulenfeindlichkeit bezeichnet, ist deshalb als großer Fortschritt zu bezeichnen – vor allen für ihn selbst. Dass Westerwelle die “Gay Games”, einen internationalen Sportwettbewerb, in Köln am 31. Juli 2010 in Köln als Schirmherr eröffnen wird, gleichfalls – ebenfalls vor allem für ihn.

Die Veranstalter behaupten in ihrer Presseerklärung, dass sich Westerwelle, Jahrgang 1961 “bereits” im Jahr 2001 offen zu seiner Homosexualität bekannt habe. Da müsste ich, Jahrgang 1957 mit der Gründung der Wolfsburger Schwulengruppe im Jahr 1975 als 18-jähriger ja extrem mutig gewesen sein. Bin ich aber gar nicht. Vielleicht bin ich doch eher dekadent als ein “Bekennertypus”. Und das ist dann auch gut so!

6 Kommentare zu “Der anregende Opportunist

  1. eine gute Analyse, vielen Dank! Allerdings verstehe ich das Fazit nicht ganz: “Vielleicht bin ich doch eher dekadent als ein “Bekennertypus”.”

  2. hat westerwelle nicht einfach nur erkannt, dass das schwul-sein gut in sein image-konzept passt? jetzt, wo er ganz oben steht, kann er seine homosexualität supergut instrumentalisieren, immer wenn es ihm passt, kann er in die richtige ecke huschen und “opfer” spielen. oder?

  3. @rafik, dankeschön,
    [aus Mehrheitssicht galt ein Nicht-Verheimlichen von Gefühlen 1975 mit Sicherheit als dekadentes Verhalten. Im Zusammenhang mit Westerwelle verwenden die Gay Games den Terminus “hat sich BEREITS 2001 bekannt”. Das impliziert irgendeinen Mut, den ich auch für mich nicht beanspruchen würde. Ich fand das Nicht-verstecken und -verbergen von Gefühlen “natürlich” und “normal”. Wenn aber das Verstecken von Gefühlen und Zuneigungen um der Karriere wegen bis ins Alter von fast 50 zur mutigen Leistung erklärt wird, dann kann ich folglich nicht “natürlich” und “normal” sein, dann muss ich doch irgendwie “dekadent” sein…

  4. Danke für diesen ehrlichen und sympathischen Beitrag! Mich würde ein Punkt noch etwas eingehender interessieren: Welchen Status hat Westerwelle in der Schwulenbewegung Deutschlands? Wie ist dieser vergleichbar mit Wowereit?

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