Zwillen und Zahlen: Ist Datenjournalismus Punk?

Gestern wurde die Vermählung des Journalisten mit dem Programmierer gefeiert – der “Datenjournalismus” erblickte das Licht der Welt. Heute prahlt die neue journalistische Disziplin damit, auch ohne die Kenntnisse einer Programmiersprache praktizierbar zu sein. Doch ist der Datenjournalismus wirklich die neue Zwille der Massen? Wer bleibt auf der Strecke und wer überspringt Hürden? Und wird der Datenjournalismus den traditionellen Journalismus so sehr verändern, wie der Punk die Musik? Berliner Gazette-Autorin Martina Dietz hinterfragt die vermeintliche Demokratisierung.

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„Wir hatten keine Programmierer im Team. Also brachten wir uns die Software Tableau mit kostenlosen Übungsvideos selbst bei. Wir trainierten in einem Starbucks in einer Shopping Mall in Buenos Aires, an Tagen, die wir Tableau-Tage nannten.“

Florencia Coelho, Medienforscherin bei LaNacion, spricht über die Erfahrungen mit Datenjournalismus in ihrem Team, das kürzlich als extrem innovatives Beispiel für die Data Journalism Awards nominiert wurde. LaNacion ist eine der bedeutendsten Zeitungen Argentiniens. Sie kann mit der FAZ verglichen werden, gilt als eher konservativ – und kann sich keine gut ausgebildeten, professionellen Datenjournalisten leisten. Doch statt es einfach sein zu lassen, wie die FAZ in Deutschland, setzen die Blattmacher auf das Selbermachen im Zeichen der Do-It-Yourself-Bewegung. Stecken hinter den alten Medienmachern vielleicht doch echte Erneuerer?

Geschichten erzählen in neuen Formaten

Bekanntlich sind Datenjournalisten Teil der jungen, neuen Journalistengeneration, die die alte Generation in Angst und Schrecken versetzt. Um die wachsenden Datenberge in Politik und Wirtschaft zu bewältigen, greifen Datenjournalisten so selbstverständlich zu Software wie traditionelle Journalisten zur Schreibmaschine.

Datenjournalisten erzählen Geschichten auf eine neue Art, in verschiedendsten, flexiblen Formaten. Die Gemeinsamkeit: aus einem Daten- und Zahlenpaket wird eine Story. Guter Datenjournalismus schafft es, eine große Menge an (für die meisten Menschen) unverständlichen Zahlen so darzustellen, dass jeder sie konsumieren kann – verstehen, deuten, Folgerungen daraus ableiten. Mehr noch: BürgerInnen können mitmachen. Sie werden in die Lage versetzt, eigenhändig Quellen zu überprüfen oder aber eigenhändig Daten zu ergänzen.

Jetzt soll es mit der Demokratisierung der Daten einen ganzen Schritt weiter gehen. Denn der Datenjournalismus soll nun für alle BürgerInnen nicht nur lesbar, sondern auch herstellbar sein. Dies behauptet zumindest Simon Rogers vom Guardian, dem Vorreiter des Datenjournalismus unter den Medienhäusern.

Datenjournalist werden – in drei Schritten

Rogers veröffentlichte kürzlich mit seinem Artikel Anyone can do it. Data Journalism is the new punk die These, dass tatsächlich jeder mit ein bisschen Übung, kostenloser Software und Übungsvideos im Punk-Stil seinen eigenen Datenjournalismus betreiben könne.

1) “Hier ist ein Datenpaket.
2) Hier ist noch eins.
3) Hier sind ein paar kostenlose Tools.
SO, JETZT WERDE EIN DATENJOURNALIST“

So einfach ist es laut Rogers – genauso einfach, wie es nach einer Grafik aus dem britischen Punk Fanzine „Sideburns“ von 1977 ist eine Band zu gründen. Wer allerdings den Links in Schritt 1 und 2 folgt und damit zur Tabelle gelangt, die Zahlen über die weltweite Karbondioxid-Emission durch Energieverbrauch zwischen 1980 und 2008 enthält, verzettelt sich vermutlich dort im Zahlenwirrrwarr und gelangt erst gar nicht mehr zu den kostenlosen Erklärbär-Videos der Tools, die Rogers im dritten Schritt präsentiert.

Ich fühle mich jedenfals durch sein Fazit ein wenig vor den Kopf gestoßen: “Nun geh hinaus in die weite Welt des Internet und sei ein Datenjournalist!” Ich frage mich: Handelt es sich hier nicht doch um eine recht elitäre Angelegenheit, die sich mehr an Experten als an die breite Masse richtet?

Was bedeutet gut? Und was bedeutet gut heute?

Vorrausgesetzt, man hat Zugang zum Internet und ein gewisses Talent für Technisches und Visuelles, abgesehen von Analphabetismus, Schwächen in Mathematik und Informatik oder gar Unkenntnis von PCs – ja, vielleicht kann es jeder. Meine Großeltern und zwei Drittel der Weltbevölkerung ohne Internet fallen hierbei trotzdem raus. Und selbst ich: Ich bin jung, Teil der so genannten Facebook-Generation, beherrsche neben Blog-Software auch ein paar Bild- und Videobearbeitungsprogramme und bin vielleicht auf dem Weg, Journalistin zu werden. Ja, eine Gitarre würde ich auch in die Hand nehmen. Aber bis ich von mir behaupten könnte, Tableau, Google fusion tables oder OutWit Hub bedienen zu können, würde einige Zeit vergehen: Wochen, Monate oder Jahre?

Rogers lenkt ein, dass es auch im Punk viele Kids geben musste, die auf ihren Instrumenten experimentierten, bis ein paar gute dabei waren, an die man sich heute noch erinnert. Und dass es im Datenjournalismus ähnlich sein wird: „Jeder kann es, aber nicht jeder kann es gut.“ Was genau „gut“ aber bedeutet und an welchen Kriterien Qualität von Datenjournalismus gemessen werden sollte, definiert er nicht.

Teil der Revolution des Journalismus

Fest steht, dass es andere als die des bisherigen Journalismus sein müssen. Denn hier ist der Vergleich zum Punk nicht so weit hergeholt: Die traditionellen Qualitätsansprüche an Musik ließen sich ebenfalls schlecht auf Punk anwenden. Genau wie damals die Frage im Raum stand „Ist das überhaupt noch Musik?“ werden sich heute einige fragen „Ist das überhaupt noch Journalismus?“.

Warum am Ende jeder Teil von Punk sein konnte und kann, aber heute nicht jeder einfach mal so Datenjournalist ist, liegt vor allem daran, dass Datenjournalismus keine Lebenseinstellung werden wird. Punk bedeutete die Umwälzung der alten, etablierten Ordnung. Punk war Veränderung, Datenjournalismus hingegen ist ein Teil von großen Veränderungen im Journalismus, die Spitze des Eisbergs, die Avantgarde der Bewegung – atmet aber nicht den Revolutionsgeist der gesamten Entwicklung.

Was nicht bedeutet, dass der Datenjournalismus in den Händen manch eines Punks nicht doch zu einer digitalen Zwille werden kann – Florencia Coelho von LaNacion hat’s vorgemacht!

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema in unserem Dossier Datenjournalismus. Das Motiv oben wurde von Christian Zöllner und Patrik Tobias Fischer im Rahmen des Projekts Reclaim the Screens entwickelt.

10 Kommentare zu “Zwillen und Zahlen: Ist Datenjournalismus Punk?

  1. …was bleibt sind Fragen.
    Daten verarbeiten, das heißt doch auch interpretieren, aber in welcher Richtung? Welche Daten sind überhaupt gemeint? Alle?
    Mitmachen, ergänzen, Daten ergänzen, die wie verifiziert werden sollen, aufgrund von Vermutungen, aufgrund von welchem intellektuellen Hintergrund?
    Jeder soll selbst journalistisch tätig sein, wo bleibt die Kompetenz auf dem Niveau von Twittergelaber, oder “Find ich gut” Klicks bei facebook? Welche Bedeutung sollen solche Beiträge haben? Provokation um jeden Preis als Stil von was?
    Ist eine Katharsis des Journalismus zugunsten jeweder Beliebigkeit die Intention?
    Datenjournalismus, die Idee als solche ist interessant. Punk als ideologischer Hintergrund, ist verlockend, aber ich fürchte die Beliebigkeit, die so viele gutgemeinte Dinge im Sande verlaufen läßt.

    Hermann – J. Stumm

  2. Rogers geht ja von einer Tabulatur aus und treibt die Idee aus einer relativ einfachen Systematik (Akkorde – vielleicht meint er die Punkrock-typischen Powerchords?), ein klein wenig technischer Uebung (Greifen), ohne sich tiefer in die Materie (Musik) einarbeiten zu muessen oder zu koennen, dahingehend weiter, dass da mal schnell eine Punkband gegruended werden kann. Klar – aber jeder, der sich mal mit Gitarre usw. beschaeftigt hat, hat wahrscheinlich schnell gemerkt, dass 3-Akkord-Geschrubbel nicht das hoechste der musikalischen Gefuehle ist. Aber viele haben genauso angefangen – ohne Experten (die Musiklehrer) zur Hilfe holen oder gar bezahlen zu muessen. Man kommt weiter, vielleicht mal ein Konzert, das niemanden interessiert, viele haben Spass, manche Erfolg schon mit geringsten technischen Faehigkeiten und einfachsten POP-Akkorden. Andere nehmen das anarchistisch gelernte als Grundlage fuer ihre musikalische Entwicklung. Die Musik kann Einstieg in eine Szene und die mit ihr Hand in Hand gehenden politischen und (a)sozialen Ideale sein.
    Das alles kann meiner Ansicht nach in viele Bereiche des Lebens und Lernens uebertragen werden, so dass die Analogie zum Datenjournalismus schon vertretbar ist. Frueher gabs ja nur die ollen “Gitarre in 20 Tagen” Hefte und dazu einen Haufen Flyer von der Demo. Jetzt kann man sich im Internet eigentlich jede Art von Expertenwissen einverleiben – ohne einen Experten zu Rat zu ziehen. Was man daraus sinnvolles produziert und wie erfolgreich man in der Wissensflut selektiert haengt wieder von jedem Einzelnen ab. Da wird – gerade im journalistischen Bereich – sicher viel Muell produziert. Aber was war Punk nochmal? Wenn das hier http://blog.karlnagel.de/2012/02/24/facebook-ist-mull-also-punk/ transitiv und umkehr bar ist, sollte es klar sein… andere Geschichte…

  3. @#1 …was bleibt, sind sehr gute Fragen, und es ist schön, dass sie durch den Text aufkommen. Ich denke, dass sie die Kriterien charakterisieren, die guten Datenjournalismus ausmachen sollten: Interpretationen, die nicht manipulieren, Verifizierungen nicht auf Basis von Vermutungen.
    “Ist eine Katharsis des Journalismus zugunsten jeweder Beliebigkeit die Intention?” – Nein.
    Da die Einstiegshürden im Datenjournalismus doch höher sind als bei facebook oder twitter, fürchte ich die Beliebigkeit hierbei nicht so sehr, wie an anderen Ecken des sich verändernden Journalismus.

  4. @#2 “Aber viele haben genauso angefangen – ohne Experten (die Musiklehrer) zur Hilfe holen oder gar bezahlen zu muessen. Man kommt weiter, vielleicht mal ein Konzert, das niemanden interessiert, viele haben Spass, manche Erfolg schon mit geringsten technischen Faehigkeiten und einfachsten POP-Akkorden.” – Ja! Viele haben so angefangen und viele haben damit Erfolg, beim LaNacion-Beispiel ist es nicht anders.
    Aber: Am Anfang brauchte auch jeder zukünftige Punk-Musiker (mehr oder minder erfolgreich) zumindest eine Gitarre, Finger, ein wenig musikalisches Gehör und die Coolness, möglicherweise ein Konzert zu geben. Das ist nicht viel, die Möglichkeit, bei Punk mitzumischen, war relativ hoch.
    Dass es Parallelen zwischen Punk und Datenjournalismus gibt, streite ich nicht ab. Dennoch halte ich die Partizipationsmöglichkeit im Datenjournalismus nicht für die ultimative Demokratisierung (aufgrund ihrer Voraussetzungen, die anders sind als im Punk).

  5. Schöner Artikel :)
    Die Frage ist natürlich wie sich das weiter entwickelt. Wenn Datenjournalismus populärer wird, besteht durchaus die Chance, dass es noch mehr Tools und Quelldatenbanken gibt, die sehr einfach bedienbar sind (so wie z.B. Youtube im Filmbereich.)
    Wie sich das auf die Qualität auswirkt ist eine andere Frage, aber ich denke je mehr Innhalte, desto mehr Gutes wie Schlechtes wird es geben. Da müssen dann natürlich wieder Leute her, die Filter entwickeln um die interessanten Inhalte heraus zu picken.

  6. @#2: punk ist eine haltung, eine lebenshaltung: es ist eine aussage auch gegen das system, gegen die herrschenden werte, gegen das establishment. deshalb KÖNNEN SEHR WOHL drei akkorde das höchste aller musikalischen gefühle sein. deshalb kann das nicht-können sehr wohl befriedigung schaffen und wenn man es richtig anstellt auch andere begeistern. aus dem nicht-können eine ästhetik zu machen, einen wert zu machen: das ist auch die idee von punk. ich kann nichts, aber das ist okay, denn selbst mit dem was ich nicht kann, kann ich etwas anstellen: eine aussage über das system machen, eine kritik üben, etc.

    deshalb finde ich es interessant über die möglichkeiten nachzudenken, die diese haltung bietet in einer welt der computer und daten.

    die frage ist immer: was ist echter punk? was ist einfach nur so ge-labelt? wie entwickelt er sich unter neuen bedingungen weiter? was ist seine neubestimmung?

  7. @#6 Danke Julian :) Schau dir mal die Tools an, ich denke, sie sind ok. Was aber bleiben wird, sind die Datenberge, und die kann man schlecht/sollte man wohl nicht vereinfachen. Die Idee der Filter finde ich schwierig, kann mir zumindest nicht vorstellen, wie das funktionieren könnte und ob es wirklich so gut wäre. Beziehst du dich auf etwas, das es schon gibt?

  8. @#7 Wenden wir das mal auf den (Daten-)Journalismus an: Drei Akkorde hier können auch eine Aussage gegen das bestehende System des traditionell etablierten Journalismus sein, ja, können auch Befriedigung bzgl. Ästhethik schaffen und Begeisterung wecken – das sind im Journalismus aber nicht die Kategorien, an denen gemessen werden sollte, denke ich (zumindest nicht hauptsächlich).
    Zu welchen Schlüssen kommst du, wenn du über deine beschriebene Haltung im Datenjournalismus nachdenkst?
    Deine Schlussfragen finde ich sehr interessant, auch auf die Computer-Daten-Welt übertragen, danke dafür!

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